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Kultur: Einer aus der Neuen Welt

Heute verabschiedet sich Kent Nagano vom DSO

Was wäre ein Maestro ohne Mythos? Vielleicht ein ordentlicher Kapellmeister und rühriger Handwerker. Nichts gegen das Rührige (ohne Handwerk keine Meisterschaft!), aber Exzentriker, Auratiker, echte Enthusiasten sind aus anderen Hölzern geschnitzt. Bei ihnen ist es irgendwann egal, ob das, was der Mythos sagt, stimmt oder nicht. Er sagt es – und duldet keine Widerrede. Der ominöse Furtwänglerische „Augenblick“ gehört in diese Kategorie ebenso wie das Carlos-Kleibersche Repertoire, das in seiner Summe nie so schmal war, wie es schmal geredet wurde.

Kent Naganos Mythos ist der des Progressiven, desjenigen, der notorisch von außen kommt – und alles anders macht. In seinen sechs Jahren als Chefdirigent des Deutschen Symphonie- Orchesters Berlin hat der Kalifornier 80 verschiedene Konzertprogramme mit Werken von rund 70 Komponisten dirigiert. Mahlers dritte Symphonie machte hier im September 1999 den Anfang, Beethovens „Missa Solemnis“ wird heute und morgen einen höchst prominenten Schlussstein setzen (Philharmonie, 20 Uhr). Dazwischen fächert sich mehr oder weniger die gesamte Musikgeschichte auf, von Boulez bis Monteverdi, von Hildegard bis Kaija Saariaho.

Dass das DSO sich in dieser Zeit drastisch verjüngte und an seinen Aufgaben spürbar, hörbar wuchs (insgesamt flexibler wurde, verlässlicher im Blech, vitaler in den Streichern), mag Nagano und seinen Dramaturgen Dieter Rexroth ermutigt haben, ihre „Strategie des Besonderen“ konsequent weiter zu verfolgen. Was zunächst wie ein abgefeimter Marketing-Trick anmuten konnte, spektakulär und unerhört in seinen Kombinationen, ja Konfrontationen von Altem und Neuem (Ockeghem & Mahler, Henze & Brahms), stellte sich alsbald als pure inhaltliche Notwendigkeit heraus: Nagano, der Amerikaner mit japanischen Wurzeln, konnte gar nicht anders, als sich dem so genannten Kernrepertoire durch Überflügeln zu nähern. Erst aus einem Fragen in die Vergangenheit wie in die Zukunft des Klassisch-Romantischen hinein ließ sich dessen Gegenwart für ihn neu begründen. Erst über Umwege, über den Mut auch des Analytikers zur eigenen Emotionalität stellte er sich schließlich Bach, Beethoven, Bruckner. Dort ist er jetzt angekommen.

Berlin mag für diesen Weg nicht immer das leichteste Pflaster gewesen sein. Schließlich ist man hier als Maestro nicht allein. Kent Nagano hat diese Herausforderung angenommen. Dafür nicht zuletzt erhebt ihn das DSO im Anschluss an das heutige Konzert in den Stand eines Ehrendirigenten.

Christine Lemke-Matwey

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