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Kultur: Einer mit Unterleib

Marmor, Stein und Eisen – der rebellische Unterhaltungskünstler Drafi Deutscher ist tot

Als Konrad Adenauer noch Bundeskanzler war, gab sich die alte Bundesrepublik, zumindest an der sauber polierten Oberfläche, sittsam. Im Kino liefen treuherzige Heimatschinken mit Rudolf Prack und Sonja Ziemann, und erste Fernsehserien wie die „Firma Hesselbach“ streuten keinen Sand ins moralisch einwandfreie Getriebe. Auch der deutsche Schlager ließ keinen Zweifel an seiner Lauterkeit und schickte ältere Schnulziers wie Rudi Schuricke und René Carol oder sittsame Mädchen wie die niederösterreichische Kindergärtnerin Lolita und das ponyvernarrte „Immenhof“-Mädel Heidi Brühl auf die Bühne.

Erst als sich der angloamerikanische Rock’n’Roll und Pop langsam ausbreiteten, öffneten sich die konservativen Schlagerzirkel und kreierten mit Ted Herold, Peter Kraus oder Bernd Spier für den Nierentisch gezähmte Deutschrocker – deren Skandalfaktor freilich gegen Null ging. Erst mit dem blutjungen Drafi Deutscher, Sprössling einer Roma-Familie, veränderte sich die aseptische Szene, und die Heile-Welt-Fassade zeigte Risse. Der am 9. Mai 1946 im rauen Wedding geborene Sänger wollte unbedingt nach oben und schaffte in wenigen Jahren. Von Heino Gaze entdeckt, sagte er sich vom „Ganz in Weiß“-Gesäusel seiner Branchenaltersgenossen los und kam 1964 mit „Shake Hands“, dem „ersten originär deutschen Beathit“ (Thommi Herrwerth), auf Platz 1 der Singlehitliste.

Einen Ehrenplatz in der „Hall of Fame“ des deutschen Schlagers sicherte sich Deutscher ein Jahr später, als er das von Christian Bruhn komponierte und von Günter Loose unnachahmlich getextete „Marmor, Stein und Eisen bricht“ aufnahm, das sich trotz seiner eigenwilligen Handhabung der Grammatik 22 Wochen unter den Top 10 hielt und bis heute einen Ruf als unverwüstlicher Partysmashhit genießt.

Warum es gerade dieser Zweieinhalb- Minuten-Schlager zu solchem Erfolg brachte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. War es das geniale musikalische Eröffnungstrommeln? Verse von anmutiger Schlichtheit wie „Weine nicht, wenn der Regen fällt“ oder das lautmalerisch einmalige Intermezzo „Dam, dam, dam, dam“, das selbst textunkundigen Menschen ein Nachsingen leicht machte? Oder war es vor allem dieser rotzige Interpret, der sich auf Plattencovern oft mit so aufmüpfig-ernstem Blick zeigte? Auch die englische Version schaffte es immerhin auf hintere Plätze der US- Charts, und selbst im Französischen („Dom, dom, dom, dom“), durch das sich Drafi Deutscher eher quälen musste, bewahrt Bruhns Komposition einigen Reiz.

Nichts schien die Karriere des jungen Berliners aufhalten zu können – nur er selbst. Die Gratwanderung, als Unterhaltungskünstler Unangepasstheit auszustrahlen, glückte nicht lang. Kurz nach dem Durchbruch erlitt Drafi Deutschers Karriere einen heftigen Knick. Der erste Schlagersänger, „von dem man wusste, dass er einen Unterleib besitzt“ (Frank Laufenberg), wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt, weil er sich nackt an einem Fenster zeigte. Ob dies vielleicht nur geschah, um sich im stark angetrunkenen Zustand Erleichterung zu verschaffen, blieb offen. Mit aller Scheinheiligkeit des geschürten Volkszorns erklärte die Boulevardpresse Drafi Deutscher zur Unperson. Sein Fall steht kennzeichnend für die Doppelmoral jener muffigen sechziger Jahre. Noch gaben sich die Rundfunk- und Fernsehanstalten als penible Hüter von Anstand und Sitte, und wie sie den „wunnebaren“ Holländer Lou van Burg wegen einer außerehelichen Affäre vom Bildschirm verbannten, wollten sie nicht dulden, dass ein vermeintlicher Exhibitionist für seine Lieder ein Forum fand. Gewiss, als Waisenknabe galt Drafi Deutscher nie, ungezählt seine Affären, seine Alkoholexzesse, seine Konflikte mit Plattenfirmen und dem Finanzamt. Christian Bruhn erinnert sich in seiner Autobiografie an ein Gespräch mit Deutscher, in dem dieser den Unterschied der beiden Schlagergefährten hervorhebt: „Du bist ein Bürger, ich nicht.“

Aus dem „Rebel without a Cause“ wurde ein Künstler, der sich von allen Flops erholte und sein Geld zweitweilig hinter den Kulissen verdiente. Als Komponist und Produzent – etwa mit „Mama Leone“, „Silver Bird“ oder „Belfast“ – hatte er immer wieder große Erfolge zu feiern. Während er selbst die Bob-Dylan-Gemeinde erschütterte und „Wigwam“ mit „Weil ich dich liebe“ coverte, trat er zusammen mit Tina Rainford, seiner zweiten Ehefrau Sylvie und Kristina Bach auf. Die neuen technischen Möglichkeiten nutzend, fügte er Synthesen wie die Gruppen „Mixed Emotions“ oder „Masquerade“ zusammen und landete 1983 mit „Guardian Angel“ einen Welthit, der Nino de Angelo in der deutschen Fassung „Jenseits von Eden“ gleich mit an die Hitparadenspitze geleitete.

Auch als das Haar schütter und ein breiter Hut zu seinem Markenzeichen wurde, erfand sich Drafi Deutscher immer wieder neu. Sein legendäres Ansehen freilich verdankte er bis zuletzt „Marmor, Stein und Eisen bricht“, das alle Guildo-Horn- Revival-Wellen überdauerte. Welches Ansehen dieses Lied genießt, erfuhr auch die Schriftstellerin Brigitte Kronauer: Als man sie 1996 an die Universität Porto einlud, sollte ein einheimischer Studentenchor die Gäste mit alten deutschen Volkslieder erfreuen. Den Abschluss – nach „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“ – bildete jene Marmor-Weise, die die Anwesenden in Verzückung versetzte: „Die vorwiegend akademischen Zuhörer gerieten plötzlich aus dem Häuschen, klatschten bei der verlangten Wiederholung nahezu vollzählig mit und summten hier und da noch am Buffet in nachwehender Begeisterung zu portugiesischen Törtchen, womöglich ohne es zu bemerken, den Refrain.“ Welcher andere Schlagersänger hat je Vergleichbares erreicht?

Gestern morgen ist Drafi Deutscher mit 60 Jahren in einer Frankfurter Klinik an Herzversagen gestorben.

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