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Kultur: Ekel und Menetekel

Salzburger Festspiele: Nikolaus Lehnhoff seziert Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“

Das Salzburger Festspielpublikum ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Da bekommt es blanke Busen gleich im Dutzend präsentiert – aber von Empörung keine Spur. Da werden geschlechtliche Identitäten durcheinander gewürfelt, werden nackte Kinder als Sexsklaven in einer Lustgrotte gehalten – und zum Lohn gibt es für Regisseur Nikolaus Lehnhoff keinen Buh-Orkan, sondern einhelligen, freundlich ermunternden Applaus.

Was dann doch etwas verstören darf. Denn könnte, müsste Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“, die erste Musiktheaterpremiere der diesjährigen Festspiele, nicht mehr sein als gepflegte, nun ja, appetitliche Abendunterhaltung ab 18? Wäre nicht gerade dieses ausladende, 1918 uraufgeführte Fresko einer haltlosen, nur noch dem Genuss und der Triebbefriedigung hinterherjagenden Gesellschaft eine Oper, die bestürzen und empören muss? Wären hier statt des voyeuristischen Blicks, statt dekorativer Schlüpfrigkeit nicht Ekel und Entsetzen, der Blick in eigene Abgründe gefragt?

Zuletzt hatte Martin Kusej diesen Blick geworfen. Bei seiner legendären Stuttgarter Inszenierung hatte er die Geschichte aus der Genueser Renaissancewelt des Librettos gerissen und furios in den Dreck unseres schmutzigen Lebens gestampft: Am Ende saß dort der wahnsinnig gewordene Krüppel Adriano, die Leichen seiner geliebten Carlotta und des Wüstlings Tamare hinter sich lassend, nackt in einem Erdloch – das Bild einer unrettbar zerstörten Menschenseele, das sich tief ins Hirn brennt. Kusejs Brachialakt war zugleich ein Befreiungsschlag für Schrekers Musik, der zahlreiche engagierte Wiederaufführungen seit Ende der siebziger Jahre nicht den Hautgout höchst raffinierter Zweitklassigkeit hatten nehmen können. Es ist die Aufgabe der Bühne – soviel wurde in Stuttgart klar –, dieser Musik ihren Traumort zuzuweisen. Zu zeigen, dass ihre Verweigerung gegenüber der greifbaren Form, ihre flimmernde Gestaltlosigkeit keine Schwäche sind, sondern flüchtig Ton gewordenes, ungreifbares Unterbewusstsein.

Dass Nikolaus Lehnhoff einen anderen Weg beschreiten würde, war freilich zu erwarten – auch seine für Glyndeboune entstandenen Janácek-Inszenierungen, die ihm in den letzten Jahren einen späten Erfolg an der Deutschen Oper Berlin bescherten, kündeten nicht von radikaler Modernisierung, sondern von einem vermittelnden, den Kunstcharakter des Musiktheaters betonenden Zugang. Lehnhoff ist umsichtig statt umstürzlerisch, bedient das Werk, statt es in Frage zu stellen. Klar, geradezu plakativ, zeichnet er die drei Hauptcharaktere: Der tragische Held Alviano (Richard Brubaker mit Tapferkeit und viel Metall in der Stimme) ist kein Verwachsener, sondern ein Außenseiter, der in rosa Abendkleid und Struwwelpeter-Perücke herumläuft und von der exaltierten Künstlerin Carlotta dazu gebracht wird, sich selbst zu akzeptieren. Die zentrale Atelierszene, in der sich die beiden einander offenbaren, führt Lehnhoff ganz handfest als Seelen-Strip vor. Ein Textil nach dem anderen muss Alviano fallen lassen, bis er in einer durchsichtigen schwarzen Ganzkörperstrumpfhose dasteht.

Das ist symptomatisch: Die entlarvende Nacktheit hat bei Lehnhoff keinen Platz – nur die dekorative. Alvianos Selbstverachtung ist dabei auf seine Therapeutin übergegangen. Während sich das Unschuldslamm im dritten Akt in strahlendem Weiß präsentiert und sich auf die Hochzeit mit Carlotta freut, wirft diese sich seinem Rivalen Tamare (mit saftigem Bassbariton: Michael Volle) in die Arme – gibt sich und ihr Leben für einen Augenblick von Rausch und Ekstase auf.

Der ultimative Kick als einziges Lebensziel einer perspektivlosen Gesellschaft. Spätestens hier, wo sich die Parallele zur Gegenwart schon fast von allein zieht, beginnt Lehnhoffs artige Beschränkung aufs Opernhafte zu nerven. Denn seine Figuren bleiben Kunstprodukte, ähnlich hohl wie die riesigen Skulpturentrümmer, mit denen sein Bühnenbildner Raimund Bauer die Salzburger Felsenreitschule möbliert hat. Die ausladenden Sängergesten und Divenposen, Andrea Schmidt-Futterers Kostüme mit ihrer Achtzigerjahre-Musical-Ästhetik, die Mischung aus Venezianischem Karneval und Crazy Horse, die Lehnhoff für Alvianos Lustinsel „Elysium“ im dritten Akt heraufbeschwört – all das rückt die Geschichte weit fort und illustriert lediglich die Oberfläche der Musik, statt ihr einen autonomen Platz jenseits der Bühne zuzugestehen.

Da können Kent Nagano und das Deutsche Symphonie-Orchester so schön spielen, wie sie wollen: Obwohl Franz Schrekers Musik so farbenreich, delikat und kraftvoll klingt wie kaum jemals, ist sie letztlich zu schwach, um sich gegen diese Szene zu behaupten. Selbst ein Nagano kann aus dieser Musik nur ein Maximum an Effekten herauskitzeln – eine autonome, den Opern Leos Janáceks oder Richard Strauss’ vergleichbare Wirkungskraft kann er ihr nicht verleihen. Das Unterbewusstsein der Töne bleibt an das Bewusstsein der Bühne gekoppelt.

Bleibt Anne Schwanewilms als Carlotta. Die Sängerin, die schon an der Lindenoper Peter Mussbachs Inszenierung des „Fernen Klangs“ beherrschte, ist wohl die ideale Verkörperung der Schreker’schen Frauenfiguren: Liebesgierig und romantisch, rastlos und unendlich erschöpft, femme fatale, Kindfrau und Kunstfigur – all diese Facetten schillern in ihren seifenblasenhaften Piano-Tönen. Die oft an Elisabeth Schwarzkopf erinnernde Geziertheit ihres Singens macht auf frappierende Weise die Hypersensitivität und Lebensfremdheit dieser Gestalten fühlbar. Eigentlich ist es gar nicht nötig, dass sie sich dazu immer in den Schritt greifen muss.

Jörg Königsdorf

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