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Kultur: "Elektra": Lieb Vaterhand

Wenn es brenzlig wird, greifen kleine Mädchen nach der Hand des Vaters. Daddys Pranke garantiert Schutz und Geborgenheit vor den Zumutungen der Welt.

Wenn es brenzlig wird, greifen kleine Mädchen nach der Hand des Vaters. Daddys Pranke garantiert Schutz und Geborgenheit vor den Zumutungen der Welt. Auch Elektra folgt diesem Reflex - so gut es geht: Denn die eigene Mutter hat, gemeinsam mit ihrem Liebhaber, Elektras Vater erschlagen. Jetzt regiert Klytämnestra in Mykene, Agamemnons Standbild ist zerschlagen. Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Bruchstücke der Herrscherstatue wegschaffen zu lassen. So konnte Vaters Hand zum Zufluchtsort für die Tochter werden. Im Richterstab, den das bronzene Abbild hielt, hat sich Elektra eingerichtet. Hier birgt sie die Mordwaffe, ein Beil, mit dem Orest, der jüngere Bruder, Rache an der Mutter und ihrem Gespielen üben soll.

Die Zwiegespräche der Tochter mit der metallenen Vaterfigur gehören zu den starken Momenten in Harry Kupfers "Elektra"-Neuinszenierung an der Komischen Oper (Bühne: Hans Schavernoch). Es sind gewaltige Monologe, die Richard Strauss in seiner Atriden-Tragödie der Halbwaisen in den Mund legt, von Hass und Liebe durchglühte Herzensergüsse, die jede Interpretin an stimmliche Grenzen führen. Bei Isoldé Elchlepp zucken sie durch alle Muskeln ihres Körpers, bevor sie sich über die Lippen Bahn brechen. Die Sängerin, die zunächst als Mezzosopranistin Erfolge feierte, bevor sie ins hochdramatische Fach wechselte, hat keine Angst vor dem "hässlichen" Ton, vor dem Schrei. So wie sie den Torso der Vater-Figur in Besitz nimmt, wie sie lauert und schmeichelt, sich aufbäumt, hart wird im Hass, reizt sie das ganze Ausdrucksspektrum der weiblichen Stimme aus, von der zärtlichen Kantilene bis zum fauchenden Sprechgesang. "Dies ist die Stunde, wo Elektra um ihren Vater heult, dass die Wände schallen", raunen sich die Mädge zu. Es ist die Stunde der Sängerdarstellerin Isoldé Elchlepp.

Und es ist auch der Premierenabend der Eva-Maia Westbroek. Ihre Chrysothemis verströmt sich geradezu in ihrem Leid. Sie will die Tat der Mutter vergessen, um sich ein "Weiberschicksal" zu ermöglichen, das kleine Glück mit Mann und Familie. Doch sie ist kein Püppchen im Faltenrock, sondern eine von Sehnsucht gemarterte junge Frau, die mit der enormen Intensität ihres üppigen Soprans sofort Herzen und Hände der Zuhörer für sich gewinnt.

Vor den vokalen Qualen dieses Geschwisterpaars verblassen die Martnern der Gattenmörderin Klytämnestra zur Hypochondrie. Er habe Mitleid mit dieser von Albträumen geschüttelten Frau, gab Harry Kupfer im Vorfeld zu Protokoll, und inszenierte die Figur konsequent unentschlossen. Mal darf Ute Trekel-Burckhardt als Megäre im überlangen, weinroten Teddyfellmantel von der Spitze des Statuentorsos herunter keifen, mal muss sie sich als schwächelnde Alte von Elektra auf den schrundigen Bühnenboden stoßen lassen. Für beide Seelen in Klytämnestras Brust hat die gewiefte Singschauspielerin die rechten Gesten und Stimmfärbungen parat. Ein schlüssiges Rollenporträt allerdings ergibt das kaum.

Tantiemen will er gerne nehmen

Um die vierte Hauptrolle schert sich der Regisseur dagegen gar nicht: um das Orchester. Weil die in der Partitur geforderten 120 Musiker nicht im Orchestergraben der Komischen Oper Platz finden, spielt man die ausgedünnte Fassung, die der geschäftstüchtige Komponist höchstselbst autorisiert hat, um sich nicht vom Tantiemenfluss aus den Stadttheaterkassen abzuschneiden. Während Kupfer oben Breitwandoper bietet, macht Michael Boder aus der Notlösung eine Tugend: Er verzichtet auf dröhnende Dauerekstase und konzentriert sich lieber auf die subtilen Farbwerte des virtuos gearbeiteten Klangteppichs, den Richard Strauss Hofmannsthals archaisch raunender Sophokles-Deutung untergeschoben hat.

Das erleichtert den Sängern die Arbeit und ermöglicht den Musikern, sich mit flexiblem, differenzierten Spiel für das "Geschenk des Hauses" zu bedanken. Auf besonderen Wunsch des Orchesters wage sich Berlins kleinstes Opernhaus an das groß dimensionierte Stück, erklärt Intendant Albert Kost auf der Premierenfeier. Dass auch Chefdirigent Yakov Kreizberg sehr dafür war, verschweigt er lieber. Denn Kreizberg strich sich selbst im letzten Jahr aus der Besetzungsliste, nachdem er im Streit mit Kost seine vorzeitige Vertragsauflösung bekanntgegeben hatte. Daraufhin wurde Philippe Auguin als Dirigent angekündigt, im Graben stand am Sonntag nun - erfolgreich, doch unerwartet - Michael Boder.

Ganz und gar nicht überraschend fiel dagegen die Regie aus: Harry Kupfer paraphrasierte seine Inszenierungen der Oper aus Graz, Amsterdam, Cardiff und Wien und kam damit beim Premierenpublikum widerspruchslos durch. Hätte dieser Abend in Mannheim oder Weimar stattgefunden, man verließe diese "Elektra" durchaus zufrieden - wenngleich Kupfers Hyperrealismus mit seinen hektischen Aktionen und optischen Überdeutlichkeiten (Eimer voll Blut, Militärmäntel, Unterröcke, Schergen mit Taschenlampen) inzwischen stark nach Musiktheatermuseum riecht.

Zum Ärgernis aber wird die Produktion, stellt man sie in den Kontext der quälenden hauptstädtischen Operndebatte. Wie das Märchen, so lebt auch die Oper von mündlicher Überlieferung. Geschichten, die nicht mehr erzählt werden, geraten in Vergessenheit. Mit ihrer Politik, das ohnehin schmale Repertoire lebendiger Musiktheaterwerke durch die Inszenierung der ewig gleichen Stücke weiter zu reduzieren, nehmen die Berliner Opern billigend in Kauf, dass im Bewusstsein des Publikums viele bedeutende Werke der Gattung aussterben. Sind aber ersteinmal jene aus dem Kreis der Zuschauer verschwunden, die aus ihrer Jugend noch angenehme Erinnerungen mit einem lange nicht gespielten Werk verbinden, bleiben die Ränge leer. Die Idee der vom Spardruck gebeutelten Intendanten, auf die unfehlbaren Kassenfüller zurückzugreifen, setzt einen Teufelskreis in Gang, der es von Jahr zu Jahr schwerer macht, das Publikum für Unbekanntes zu aktivieren.

Weniger ist nicht immer mehr

Dabei geht es gar nicht um unzugängliche zeitgenössische Opern, sondern um Klassiker des Repertoires. Um den "Waffenschmied" oder den "Wildschütz" von Albert Lortzing, der am Tag der "Elektra"-Premiere vor 150. Jahren gestorben ist. Oder Vincenzo Bellini, dessen 200. Geburtstag 2001 gefeiert wird. Wer weiß noch, wann in Berlin zuletzt "Samson und Dalila" oder Puccinis "La Rondine" herauskamen? Warum ignoriert man die Opernkomponisten Benjamin Britten, Michail Glinka, Sergej Prokofjew, Franz Schreker, Maurice Ravel?

Bei der "Elektra" an der Komischen Oper stehen fast ausschließlich Gäste auf der Bühne, nicht einmal die Nebenrollen der Mägde kann das einst für sein Ensemble gerühmte Theater aus dem Haus besetzen. Nimmt man die reduzierte Fassung hinzu, die Dirigentenfluktuation, die Regieroutine und die Tatsache, dass die Bühnenskulptur in Bukarest gebaut wurde, bleibt nur Erstaunen.

P.S.: Die Staatsoper Unter den Linden übrigens kommentiert das "Elektra"-Experiment ihres Nachbarn auf eigene Art: Für Sonnabend hat man eine Wiederaufnahme der eigenen "Elektra" angesetzt.

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