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Elias

© Ullstein/Poss

Elia: Der Himmelreiter

Zwischen Wüste und Paradies: eine Bergbesteigung auf den Spuren des Christus-Vorgängers Elia.

Die letzten tausend Meter zu Fuß. Eine gewundene, erst sachte und dann, wenn das Ziel schon greifbar nahe scheint, noch einmal steil anziehende Kurve, in der man keine Landschaft mehr sieht, sondern nur noch steinerne Stufen. Und seltsame Zeichnungen im Fels.

Achtzig Kilometer nördlich von Damaskus, im Gebirge des Antilibanon, sitzt auf einem Vorsprung das Kloster Deir Mar Musa El-Habashi. Ein abgelegener Ort, schwankend zwischen Paradies und Wüste, Verfall und Wiederkehr; von der Straße aus kaum zu erkennen.

Tausenddreihundert Meter über dem Meeresspiegel, sagt die Karte. Es fühlt sich höher an, entrückter. Vom Innenhof des Klosters, in Nussschalenmauern, öffnet sich der Blick in eine archaische Leere und Weite. Die Gedanken entfliehen in eine Zeit, als die alten Offenbarungs- und Erlösungsgeschichten noch nicht verdreht, manipuliert, kanonisiert und getrennt waren.

Aber das ist nur eine Sehnsucht oder Sinnestäuschung, nichts weiter. Menschen machen das immer, zumal im Dienst der Religion: Geschichten drehen und wenden, bis sie ihren Zweck erfüllen – als self-fulfilling prophecy.

Der Berg, der Aufstieg, die Stille. Plötzlich begreift man, dass Religionen, mögen sie nachher auch noch so verschieden voneinander und tödlich verfeindet sein, unter ähnlichen Bedingungen entstehen und im Grunde zum Verwechseln ähnlich sind. Wann aber – auch dies gehört zu den Fragen, die ein Ort wie Deir Mar Musa aufwirft – verfestigen sich Visionen zu Religionen, wann wird die Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen notwendig, und warum?

Tief in den Berg hineingebaut die Bibliothek. Die Fundamente stammen aus römischer Zeit, das Imperium unterhielt hier einen Außenposten zur Überwachung der Karawanenwege. Die Klostergründung gegen Ende des 6. Jahrhunderts, auf den Resten des römischen Wachturms, geht auf einen abessinischen Eremiten namens Moses zurück. Er war ein Königssohn, der Macht und Luxus aufgab und auf Wanderschaft ging, wie Siddharta tausend Jahre zuvor in der indisch-buddhistischen Welt.

Im 17. oder 19. Jahrhundert schließlich, da widersprechen sich die Quellen, hatten die Mönche den Berg aufgegeben. Ende des 20. Jahrhunderts kehrte mit syrischen und italienischen Restauratoren Leben in die Ruine zurück.

Die Fresken in der winzigen Kirche von Deir Mar Musa datieren aus dem 11. bis 13. Jahrhundert, sie sind in gutem Zustand. Zwischen zwei Bögen in griechischen Buchstaben der Name Elia. Der Prophet, der Christus-Vorgänger, dessen Name „Mein Gott ist Jahwe“ bedeutet, sitzt auf einem roten Pferd und reitet gen Himmel, er blickt sich noch einmal um, die linke Hand umfasst die Mähne des Tiers. Die Darstellung ist so außergewöhnlich und überraschend, dass man sich die Augen reibt.

Dem Altar gegenüber ist eine ganze Wand mit der Szenerie des Jüngsten Gerichts ausgemalt. Das Wiegen der Seelen, links der Himmel, rechts der Weg in die Hölle, zu den Sündern. Nebeneinander aufgereiht nackte Männer und Frauen, sie büßen für Ehebruch. Durch ihre Augen und Münder dringen Schlangen ein. Auf der anderen Seite die Geretteten bei der Jungfrau Maria. Die Hölle ist spektakulärer – im Himmel zu sein, bedeutet nur, auf der richtigen Seite zu sein. Ob die Freskenmaler bemerkt haben, wie dicht die Sphären beieinanderliegen?

Und wie kamen sie dazu, den Propheten Elia aufs Ross zu setzen? Im Alten Testament, im Buch der Könige, heißt es, Elia werde auf einem Wagen mit feurigen Pferden in den Himmel entrückt. So sieht man ihn auf Ikonen: der Prophet in einer roten Wolke, wie ein antiker Streitwagenlenker, gezogen von einer Quadriga. Eine Demonstration göttlicher Naturgewalt, wie der Gewittersturm über Golgatha.

Der Elia von Deir Mar Musa, der syrische Elia gehört aber offensichtlich auch zu einem anderen Kreis von Geschichten und Legenden. Seine Darstellung gleicht verblüffend der Himmelfahrt des Propheten Mohammed auf persischen Miniaturmalereien. Die islamische Ikonografie unterscheidet sich wenig von den Malereien der kleinen syrischen Klosterkirche. Und die Geschichten ergänzen sich. Elia wird – göttliche Weisung – aus dem Norden in den Süden geschickt, in den Sinai. Mohammed reist himmelwärts von Süd nach Nord, als er eines Nachts vom Erzengel Gabriel geweckt und zu Buraq geführt wird, einem mythischen Wesen mit Pferdekörper und Flügeln, das wiederum an den griechischen Pegasos erinnert, aus dessen Hufschlag Quellen sprudeln. Das gleiche Pferd, und so viele stolze Reiter.

„Über Wüsten, Täler und Berge flog al-Buraq und landete, wie Gott ihm befahl, an der großen Mauer des Tempels von Jersualem. In dieser Nacht vermochten die Diener des Tempels die Pforte nicht zu schließen. Sie musste offen bleiben für den Gesandten Gottes. Sie wurde offen gehalten von einer himmlischen Gewalt. Mohammend betrat den Tempel. Die Geister von Abraham, Moses und Christus begegneten ihm dort, und sie begrüßten ihn. Zusammen mit ihnen verrichtete Mohammed sein Gebet“.

So schildert Essad Bey das fantastische Geschehen in seiner 1932 erschienenen Mohammed-Biografie. Bey war ein in Baku geborener Jude, Sohn eines Ölmagnaten und deutschsprachiger Schriftsteller, der zum Islam konvertierte und ursprünglich Lev Nussimbaum hieß. Ein Mann, der die scharfe kulturell-religiöse Aufteilung der Welt aufheben wollte. Er starb verarmt und vergessen.

Europa teilt mit dem Nahen Osten nicht nur seine zwei wesentlichen geistigen Wurzeln: die griechische Antike und das alte Israel. Es hat sich intellektuell und historisch als eigenständige Identität überhaupt erst herausbilden können, weil es sich von etwas anderem abgrenzte: nicht allein vom Islam, sondern vom gesamten arabischen Kulturraum“, schrieb der Publizist und Orientalist Navid Kermani in der „Neuen Zürcher Zeitung.“ Das Bewusstsein für – mutwillig – verschüttete Zusammenhänge wächst. „Jede organisierte Religion betrachtet sich als monumentalen Tempel, erbaut aus homogenen Elementen. Aber wenn wir im Innern umhergehen, sehen wir Arkaden, die nicht mit den Pfeilern verbunden sind, und Säulen, die sich von den Sockelplatten lösen. (...) Viele Elemente reichen zurück in die Zeit vor der Ankunft des Propheten oder Lehrers, der den Tempel gründete; manche haben nichts mit seiner Vision gemein“, so liest man in der „Kampfabsage“ von Ilija Trojanow und Ranjit Hoskoté. In dem Buch betreiben die beiden Schriftsteller eine faszinierende Archäologie von Ideen und Bildern, Feindbildern.

Himmel- und Höllenfahrten finden sich überall in der europäischen Literatur, aber ebenso in arabischen Erzählungen und in den Kulturen außerhalb des Mittelmeerraums. Dante steckte in der „Göttlichen Komödie“, wen wundert’s, Mohammed in die Hölle.

Himmelsritte haben etwas Visionäres, Rauschhaftes, Künstlerisches, ja Technisches, zumal für Atheisten. Als Dampflokomotiven noch die schnellsten Transportmittel waren, verglich man sie mit dem „feurigen Elias“. Auferstehung hingegen ist eine reine Glaubensfrage. Da stellt das Christentum die allerhöchsten Anforderungen – was die Ostergeschichte als zentralen Mythos betrifft.

Die Last von Jahrhunderten, in denen sich die Welten gewaltsam auseinanderlebten, liegt auf der kleinen, naiv-unschuldig wirkenden syrischen Elia-Figur, wenn man so unvermutet auf sie stößt. Nur ein Beispiel, wie tief verschüttet das gemeinsame kulturelle Wissen ist: Als die Kirche von Deir Mar Musa ausgemalt wurde, kannte die arabische Wissenschaft, lange vor der Renaissance in Italien, schon die wissenschaftlichen Vorausetzungen der Perspektive, wie Hans Belting in seinem neuen Buch über „Florenz und Bagdad – eine westöstliche Geschichte des Blicks“ nachweist. Doch kulturelle Adaption scheint fast immer mit Abgrenzung einherzugehen. Ostern trennt Juden und Christen, wie der jüngste Streit um das Karfreitagsgebet wieder gezeigt hat.

Elia, den alttestamentarischen Propheten, muss man nach unseren Begriffen einen Fanatiker nennen. Er lebte im 9. vorchristlichen Jahrhundert im Nordreich Israels. Verfolgt von „Heiden“ und mit dem Tod bedroht, schreckt er selbst nicht vor einem Massaker an 450 Propheten des phönizischen Gottes Baal zurück. Mit allen Mitteln kämpft er für den einen, seinen Gott. Dafür setzt er sein Leben ein – und Gewalt. Er wirkt Wunder, wie tausend Jahre nach ihm Jesus. Elia besitzt die Fähigkeit, das Wasser zu teilen, Speisen zu vermehren und ein totes Kind wieder zum Leben zu erwecken. Aber er stirbt nicht am Kreuz, er geht ohne Umweg in den Himmel.

Am Berg Sinai, dem Dschebel Musa, wo Moses die Gesetzestafeln geholt hatte, soll er den himmlischen Feuerwagen bestiegen haben. Die Stelle liegt einige hundert Meter unterhalb des Gipfels. Es gibt dort seltsame Steinformationen mit menschlichen Formen, als habe der Fels Augen und Ohren.

Elia, ein Feuerkopf, der sich offenbar auch nicht um das jüdische Bilderverbot scherte. Wenn es denn jemals so strikt praktiziert wurde, wie man immer geglaubt hat. In der Stadt Dura-Europos, wo heute die syrisch-irakische Grenze verläuft, begannen 1921 unter britischer Leitung Ausgrabungen. Dura-Europos war in der Antike eine römisch-parthische Grenzstadt, mit einer jüdischen Gemeinde. Die Entdeckung der Synagoge war eine Sensation: Zum Vorschein kam ein Gebetsraum, der bis unter die Decke mit Wandmalereien ausgefüllt war. Alttestamentarische Themen und Episoden in Darstellungen des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Mittendrin Elia, wie er das Lazarus-Kind in diese Welt zurückholt. Der gesamte Raum mit den jüdischen Fresken ist heute im Nationalmuseum von Damaskus zu besichtigen.

Paul Thomas Anderson hat den blutjungen, glühenden Kirchengründer in seinem Film „There Will Be Blood“ Eli genannt – und er lässt ihn am Ende einen Märtyrertod sterben. Glaubenskämpfer, Zauberer, Fundamentalist, Prophet: Die Welt hat viele Elias gesehen. Diese Erkenntnis liegt dem „Elias“-Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy zugrunde. Elia droht König Ahab, es werde eine Dürre über das Land kommen, wegen der Anbetung der falschen Götter, und es kommt eine Dürre. Elia, eine unheimliche Gestalt zwischen Judentum, Christentum und Islam.

Die allerletzten Meter: atemlos. Das Eingangstor: kaum ein Meter hoch, in einer ebenso dicken Mauer. Deir Mar Musa steht allen offen, Männern wie Frauen, Christen wie Muslimen, die das Gespräch suchen oder die Einsamkeit. Man müsste lange bleiben können. In solch einer Oase könnte Ostern sein: Ostern als spirituelle Chiffre des Aufstiegs. Man braucht keine Anmeldung, um die Gastfreundschaft der freiwilligen Helfer auf dem Berg zu genießen. Manchmal sind auch Mönche da.

Rüdiger Schaper

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