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Kultur: Emigration ins Wohnzimmer

Eine Ausstellung im Deutschen Architektur-Zentrum Berlin macht indes deutlich, wie schwer eine eindeutige Definition beim Begriff des "Funktionalismus" fällt. "Funktionalismus 1927-1961 - Scharoun versus Opbouw" lautet der Titel der umfangreichen, von der Technischen Universität Delft erarbeiteten Schau.

Eine Ausstellung im Deutschen Architektur-Zentrum Berlin macht indes deutlich, wie schwer eine eindeutige Definition beim Begriff des "Funktionalismus" fällt. "Funktionalismus 1927-1961 - Scharoun versus Opbouw" lautet der Titel der umfangreichen, von der Technischen Universität Delft erarbeiteten Schau. Sie beleuchtet die Bandbreite funktionalistischen Bauens, indem das Lebenswerk des Berliner Baumeisters Hans Scharoun sowie Schlüsselwerke der niederländischen Architektengruppe Opbouw einander gegenüber gestellt werden. Deren wichtigste Protagonisten, Mart Stam, Willem van Tijen, Johannes van den Broek und Jacob Bakema verdienten sich vor allem im kommunalen Wohnungsbau und nach 1945 bei der Wiederaufbauplanung kriegszerstörter Städte ihre Meriten.Mit Scharoun eint sie das Bekenntnis zur moderen Formensprache und zu einem Städtebau, der das geschlossene Gefüge der traditionellen Stadt auflösen möchte. Ausgehend von diesem Konsens gelangen Scharoun und die Opbouw-Vertreter allerdings zu gegensätzlichen Positionen. Die Niederländer orientieren sich bis in die sechziger Jahre eng an den Leitvorstellungen der 1928 maßgeblich von Le Corbusier ins Leben gerufenen internationalen Architektenvereinigung CIAM. Scharoun dagegen verließ die Vereinigungschon 1931, wohl weil ihm ihr Kurs zu dogmatisch war. Während er bereits 1929 bei seinem Entwurf für die Berliner Siemensstadt durch ovale und getreppte Baukörper versucht, der Siedlung ein abwechslungsreiches Gesicht zu geben, legt Mart Stam seine zeitgleich entstandene Frankfurter Siedlung "Am Hellerhof" als wiederkehrendes Zeilenraster an. Während die Opbouw-Mitglieder gerade in den dreißiger Jahren bedeutende Bauprojekte verwirklichen können, beginnt für Scharoun in der Ns-Zeit die "Innere Emigration" - im doppelten Sinne: Da das Bauen dem traditionalistischen Heimatstil zu gehorchen hatte, verlegte Scharoun seine Experimentierlust auf die Gestaltung der Innenräume. In den zwölf für private Bauherren errichteten Wohnhäusern entstehen hinter biederen Fassaden großzügige, asymmetrisch komponierten Raumfolgen. Nach dem Krieg versucht Scharoun seine Erfahrungen in der Raumdramaturgie auf öffentlicher Räume zu übertragen, etwa bei der Entwicklung seiner "Wohngehöfte" in der ab 1961 errichteten Siedlung Charlottenburg-Nord. Hier setzt er die Häuser wie um einen Dorfanger gruppiert in Bezug. Dieser Versuch, zu eindeutigen Raumhierarchien zurückzukehren, zeugt von Scharouns unausgesprochenem Eingeständnis, daß sich mit den alleine nach Besonnungskriterien und abstrakten Mustern über ein Terrain gelegten Zeilen und Punkthochhäusern kein vernünftiger Städtebau machen läßt. Eben dieses Konzept bestimmt aber die niederländischen Siedlungen wie in Leeuwarden-Nord bis in die sechziger Jahre. Sie wirken noch heute futuristisch. Scharouns von der Küche bis in den Garten mäandernde Wohn(zimmer)landschaften aus den dreißiger Jahren erscheinen dagegen zeitlos wohnlich und elegant.

Deutsches Architektur-Zentrum, Köpenicker Str. 48, bis 21. August. Katalog 60 DM.

FRANK PETER JÄGER

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