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Kultur: "Emilia Galotti": Sturm und Zwang

Das ist das Stück, in dem normalerweise in der 2. Szene der berühmte Satz fällt: "Die Kunst geht nach Brot.

Das ist das Stück, in dem normalerweise in der 2. Szene der berühmte Satz fällt: "Die Kunst geht nach Brot." Und das ist eine Inszenierung, in der alles gestrichen ist, was an Lessing erinnert: der Hofmaler Conti und seine Brot-Kunst, überhaupt alles Höfische, Fürstenwillkürliche und Aufklärerische, die bürgerlichen Ehrbegriffe und ihr tödliches Reinheitsgebot. "Emilia Galotti" in nicht mal anderthalb Stunden - ein Skelett! Eine eisige Fuge. Und doch und deshalb hinterlässt Michael Thalheimers bizarre Lessing-Lektion - nach "Bluthochzeit" und "Antigone" der dritte Klassiker zur Eröffnung der Intendanz von Bernd Wilms am Deutschen Theater - bisher den stärksten Eindruck.

Flammen züngeln aus dem Boden. Eine junge Frau in einem kurzen, grünen Kleid (später wird sie weiß tragen, die Braut) kommt über einen imaginären Laufsteg nach vorn geschossen, wie ein verlangsamtes Projektil. Ihr Schritt ist fest, entschlossen, ihre großen Augen weit aufgerissen, ein Feuerwerk regnet auf sie herab, als sie die Bühnenmitte erreicht. Sie steht kerzengrade an der Rampe, als erwarte sie leise lächelnd ein halb schreckliches, halb herbeigesehntes Schicksal. Man sieht: Vollzug! Die maschinelle Lesart eines Dramas, das Innere der Uhr. Die Leere. Ein hoch ragender, abstrakter Säulengang, der sich nach hinten zu einer niedrigen, dunklen Loch verjüngt: Durch diese hohle Gasse (Bühne und Kostüme: Olaf Altmann) kommen die Lessingschen Larven; unbehaust, ausgesetzt, Stoiker mit explosionsartigen Gefühlsausbrüchen. Und weiter gestanden, gelaufen, gelitten. Mit Lust. Und gelegentlich auch mal ein Grinsen, weil: So schlimm ist es auch wieder nicht.

Es wird nur das Nötigste gesprochen - maschinengewehrschnell. Sven Lehmanns Prinz, ein fallsüchtiges Nervenbündel, und Ingo Hülsmann, sein diabolischer Kammerherr Marinelli, beraten sich mit einem zungenbrecherischen Speed, als gelte es, in einer Quiz-Show binnen dreißig Sekunden so viele altertümliche, hohe Worte wie möglich herunterzurattern. Worte - wozu? Lessings "Trauerspiel" ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, in Körpersprache. Marinellis mörderisches Intrigenspiel: immerzu dreht er seine Hand vor der Brust, in der Herzgegend. Die Liebe des Prinzen zu der Bürgerstochter Emilia: Da versagen ihm die Beine. Sturm und Zwang.

Man muss Thalheimers Regie minimalistisch nennen. Konzept-Theater, eine Performance vom Reißbrett, wie in seiner auch beim Theatertreffen bejubelten Hamburger "Liliom"-Radikalkur. Und doch und wieder: ein Abend der Schauspieler, eine leidenschaftliche Studie! Man schaue nur hin, wie Nina Hoss ihre Gräfin Orsina, die abgelegte Geliebte des Prinzen, an der Leine führt. Stumm und schön, klug und glutvoll, eine Statue, die mehr Leben in sich hat als ein Dutzend exaltierter Diven. Und Regine Zimmermann: In den wenigen Sätzen, die ihrer Emilia geblieben sind, bricht eine wilde Lust heraus, die die Tragödie in ein erotisches Abenteuer verwandelt; als wärs ein Stück von Kleist. Mit einem Flüsterschrei tut sie kund, was der Prinz ihr beim Kirchgang ins Ohr geblasen hat - Sex! Noch Emilias Eltern (Katrin Klein, Peter Pagel) brennen füreinander unter der Asche des alten Dramas. Liebe als die Vereinigung der Gehirne. Wenn die Fantasie unerträglich wird.

Sie wandeln wie im hellsten Traum. Sie starren sich wie die ersten Menschen. Manchmal pieksen sie sich in den Bauch, als wollten sie einander versichern, dass die keine Roboter sind. Sie proben den aufrechten Gang. Exerzieren Primaten-Prosa. Niemand ist davor sicher: Selbst Marinelli überfällt die Lust, die Orsina zu küssen. Ein fürchterlicher Virus breitet sich aus in der Welt, und das ist die Liebe. Und alle Lust heißt hier - Verzicht. Sie stecken die Kränkungen, die Tiefschläge scheinbar lässig weg. Sie leben von einem Augenblick zum nächsten. Keine Vorgeschichten, kein Danach. Alle stehen auf einer Stufe, keine Klassenunterschiede mehr. Und alle lieben am gleichen Strang.

Vom ersten, verschwörerischen Auftritt der Emilia bis zum abrupten, entttäuschenden Schluss walzt und wälzt sich eine endlose Geigenmelodie über Menschen und Wände. Es ist der Ohrwurm aus dem Spielfilm "In the Mood for Love"; der Soundtrack wurde für das Deutsche Theater neu abgemischt. Es ist aber weit mehr als eine akustische Anleihe aus dem Kino-Hit: Nach und nach bemerkt man, dass Michael Thalheimer seinem Lessing Atmosphäre, Rhythmus und Attitüde des Melodrams von Wong Kar-Wai unterlegt und überstülpt. Die langen, dräuenden Gänge der Helden, dieses Neben-Sich- und Nebeneinander-Stehen, diese exotische Stilisierung von Begegnung und Begierde, dieses Rituell-Sich-Aufsparende der Liebenden - all das erklärt sich aus der filmischen Inspiration. Die Anverwandlung geht bis ins Detail: Sie tragen Designer-Kostüme. Sie leben einen gebremsten Exzess aus. Mit dem Revolver, der von Hand zu Hand geht (und von Schläfe zu Schläfe), wird nicht geschossen. Auf dünnem Grat balanciert diese "Emilia Galotti" - zwischen höchster Anspannung und Flapsigkeit.

Man ist hypnotisiert. Man verliert jegliches Zeitgefühl. Eine Ewigkeit vergeht, und dann ist es erst kurz vor Neun. Die Wände werden aufgestoßen, und Walzerpaare bevölkern plötzlich die Bühne, tragen Emilia von der Bildfläche fort. Da ist die wahnsinnige Konzentration wie weggewischt, ein Fauxpas. Den Rest dieses noch jungen Abends kann man damit verbringen, über zwei Phänomene nachzudenken: Das neue Deutsche Theater ist wach und lebendig, aber auch sehr streng, nach Form und Inhalt. Und es ist das Haus der starken jungen Frauen.

Rüdiger Schaper

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