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Kultur: Ende der Verführung

Solo für Ingo Hülsmann: Nabokovs „Lolita“ am Deutschen Theater Berlin

Den großen Einstieg gönnt er ihm nicht, dieses „Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden ...“. Das kommt erst später, da ist Ingo Hülsmann schon über den spiegelnden Granitboden gekrochen, mit offenem Mund, fast sabbernd vor Begierde beim Gedanken an das blonde Nymphchen. Denn wenig ist von Licht die Rede oder von Liebe und viel von Lust: Humbert Humbert, Vladimir Nabokovs pathetischer Ritter von der traurigen Gestalt, ist in der Theaterfassung des Deutschen Theaters brutal zurückgeführt auf seinen Kern: ein Kinderschänder.

Denn – Kinder, Leute, Gentlemen von der Jury: Der hier in einem großen Monolog seine Verteidigung entwirft, der anfängt bei Adam und Eva und endet in Tod und Verwirrung, der weiß genau, was er tut. Hübsch grau meliert in grauem Anzug, ist Ingo Hülsmann als Humbert Humbert halb Harald Schmidt, halb Handlungsreisender: ein Zyniker, selbstbeherrscht und berechnend in jeder Zuckung des Mundwinkels. Der Prototyp eines unzuverlässigen Erzählers.

Nur ist das mit den unzuverlässigen Erzählern auf der Bühne so ein Problem: Man traut ihnen nicht. Man glaubt ihnen nicht. Und je virtuoser sie agieren, herumturnen auf Stühlen, um Eisschränke tigern, die Anzüge wechseln im Handumdrehen, desto misstrauischer werden wir. Erst recht, wenn da jemand auf der Bühne steht, der schon durch seine schiere Präsenz überzeugend ist, der die ganzen Reden und Volten nicht bräuchte, weil er allein durch seine Gegenwart überwältigt.

Das ist seine Spezialität: Ingo Hülsmann ist lange schon der Held des Deutschen Theaters. Einer, der noch die kleinste Nebenrolle zur Hauptrolle macht, zu dem Moment, in dem es still wird im Saal, weil da jemand plötzlich ganz bei sich ist. Als Marinelli in „Emilia Galotti“, als Mohr Aaron in „Titus Andronicus“, als Graf Leicester in „Maria Stuart“ und unlängst als Andrej in den „Drei Schwestern“: Immer sind es seine Auftritte, die in Erinnerung bleiben, weil da mit dem Heben einer Augenbraue, dem Zucken des Mundwinkels schon alles gesagt wird. Zwei, drei Sekunden nur – Theater pur.

Nun hat er mit Humbert Humbert endlich wieder eine Hauptrolle bekommen – und gleich eine, die ihm völlig gegen den Strich geht. Er darf nicht sein, was er am besten kann: einfach da sein. Präsent. Überzeugend. Muss stattdessen grimassieren, agieren, parodieren. Hat er das nötig? Er hat. Weil er etwas beweisen will, was auf der Bühne eine Unmöglichkeit scheint. Dass man anspielen kann gegen die eigene Präsenz, dass man bewusst nicht überzeugen will, wo doch Überzeugung, Verführung so leicht wäre. Weil für diesen Menschen, der das Leben eines Kindes zerstört, jede Einfühlung zu viel wäre. Es gibt kein Verständnis für Humbert Humbert. Und erst recht kein Mitleid.

Oliver Reese, Chef-Dramaturg des Deutschen Theaters, der vor Jahren schon am Gorki-Theater Döblins „Berlin Alexanderplatz“ erfolgreich für die Bühne zusammengestrichen hat, hat in seiner ersten Regie am DT auch Nabokovs legendären Skandal-Roman konsequent entschlackt. Entfallen alle Stellen, in denen Humbert Humbert sympathisch wäre. Entfallen die perfide Vermutung des Romans, dass es die zwölfjährige Lolita ist, die diesen Mitvierziger verführt und ihr Schicksal selbst verschuldet. Das, was Nabokovs Roman von 1955 – und Stanley Kubricks Film von 1962 – noch heute skandalös macht: Nicht, dass da jemand ein zwölfjähriges Mädchen monatelang in Geiselhaft hält, verführt und missbraucht, sondern, dass so jemand eine tragische Figur sein kann, ist in der Strichfassung weggefallen. Der Berliner Humbert ist ein Kollege von Dutroux und Co. Und er bekommt, was er verdient.

Und doch: nicht ganz. Lange, lange hat man diesem zynischen Unsympath zugesehen. Hat gehört, wie er kaltherzig berichtet von Missbrauch und Vergewaltigung. Hat ihm nicht geglaubt. Und hat das Urteil gefällt, das von vornherein feststand: schuldig.

Und dann kommt sie doch noch, die Erlösung. Fast zu spät, am Ende, als schon längst alle unschuldige Milch verschüttet ist, bricht er dann doch noch zusammen, der Überzeugungstäter, ein Showdown im Regen. Und erkennt, was er getan hat. Zeigt Reue, Verzweiflung, Angst. Lolitas Leben ist mit 17 Jahren schon am Ende. Er wünscht ihr, dass ihr Kind ein Junge werde – weil er ihm das Lolita-Schicksal ersparen möchte. Vor dem eigenen kann ihn keiner retten. Und man glaubt ihm, dass er es weiß.

Übrigens: Lolita tritt nicht auf an diesem Abend.

Wieder am 20., 21. und 31. 3., 20 Uhr.

Christina Tilmann

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