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Kultur: Endspiele, vorwiegend heiter

Am 1.Mai beginnt das 35.

Am 1.Mai beginnt das 35.Berliner Theatertreffen mit einem Paukenschlag: Christoph Marthaler zeigt sein verrücktestes Musik-Drama.Groß- und Altmeister wie Einar Schleef und George Tabori werden konternVON PETER VON BECKER"Grüüß Euch Gott", so schallt es mit ausholenden Anfangsvokalen, und es folgt das schmetternde Stakkato: "alle miteinander!" So wird es auch morgen dem Publikum bei der Eröffnung des 35.Theatertreffens im Berliner Schiller-Theater immer wieder entgegentönen, fünfzehnmal hintereinander, aus mehr als 40 Kehlen der Oper und des Schauspiels Basel.Diese fromm-fröhliche Begrüßung, Carl Zelters Operette vom "Vogelhändler" entsprungen, markiert den Beginn eines Festivals, das nach einer insgesamt katastrophal mittelmäßigen Saison in den deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern gleich zum Auftakt ein Zeichen setzen möchte.Mit Aplomb.Mit einem die Grenzen des Sprech-, Tanz- und Musiktheaters überschreitenden Gesamtkunstwerk Christoph Marthalers: des Schweizer Geisterkopfs, der in all diesen Genres gleichermaßen beheimatet und als nomadischer Entdeckungsreisender zugleich heimatlos ist - und für den das Stichwort "überschreiten" eigentlich viel zu gravitätisch und bedeutungsernst klingt.Weil Marthaler auch das Schwere und Monumentale, das Jäh-Komische und Jubilierende ebenso wie die Melancholien der Stille, Einsamkeit, Langeweile mit einer verrückten, verrückenden Grazie inszeniert.Weil der Tiefsinn und der Unsinn seinem menschlichen Eigensinn allemal Geschwister sind."The Unanswered Question" heißt Marthalers (und des Baseler Dirigenten Jörg Hennebergers) Abend zum Auftakt.Der Titel spielt an auf alle Sinnfragen der Welt, zumal des Theaters.Die "Unbeantwortete Frage" aber ist auch ein Stück für Kammerorchester des amerikanischen Komponisten und hauptberuflichen Lebensversicherers Charles Ives (1874-1954), und aus Ives Werk wird ebenso spunghaft zitiert wie mal ein paar Takte, mal eine Achtelarie lang aus Mozart und Wagner, Puccini und Bizet oder Eduard Künneke und Gilbert & Sullivan.Der für Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock stiltypische Tanz- und Wartesaal stuft sich diesmal zwischen dem Graben fürs Orchester und einer Hinterbühne für die Damen und Herren des Opernchors, der aus strahlend weißen Hemdbrüsten artig vom Blatt singt, aber fast immer nur sekundenweise, dann schließt sich vor ihm schon wieder ein Vorhang - und Graham Valentine und Ueli Jäggi übernehmen als Rampentiger einmal mehr Conférence und Kommando dieses Wahnsinns unter dem bieder tückischen Motto "Kunst, Klassik, Spaß".Die beiden Moderatoren, von denen Jäggi den Valentin-Orden und Valentine den Großen Giuldo Horn-Preis verdient hätte, führen als zauberhaft zynische, zungenartistische Paarung durch einen Bunten Abend, der selbst alle Potpourri-Shows dieser Art ad absurdum führt.Das klingt wohlfeil.Aber es erschöpft sich nicht in der gratismütigen Parodie.Es ist eine Travestie, ein eigenes Zwitterkunststück, das auf der Hauptbühne, die einem Asyl für hockengebliebene, frühverblichene oder organisch gealterte Sänger und Tänzer gleicht: diesen Marthaler-Menschen in Dralonpullis, Rippenrollis und Schlaghosen, in Unterhemden oder Tütüs, ausgemergelt oder schmerbäuchig, jeder zugleich eine Kopie und tatsächlich ein fabelhaft komisches, anrührendes, mitmenschliches Original.Wenn die "3 Bässe" sich hier beim "O sole mio" zur Laokoongruppe vereinigen, wird das zur Zwerchfellattacke.Doch nach der Pause graut dem Bunten Abend der überraschende, bestürzende Morgen einer Musik- und Menschheitsdämmerung, zu der die Sopranistin Rosemary Hardy des Todes und der Liebe Lieder von György Kurtág und des Lyrikers Rima Dalos singt.Ein sanfter Schock.Christoph Marthaler war letztes Jahr mit seiner viereinhalbstündigen Version (und Vision) von Horváths "Kasimir und Karoline" bereits der Eröffnungs-Matador des Theatertreffens.Danach blieben dann nur noch Petitessen.Diesmal versucht dieses Spitzenfestival des deutschen, österreichischen und schweizerischen Schauspiels, seinen Solitär mit einem zweiten Großkünstler zu konterkarieren.Also hat die fünfköpfige Jury gleich zwei Inszenierungen Einar Schleefs eingeladen: seine Fassung der "Salome" nach Oscar Wilde aus Düsseldorf und die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Sportstück" vom Wiener Burgtheater.Mit Marthaler und Schleef war dann trotz weiterer Sponsorengelder bereits der Theatertreffen-Etat im wesentlichen verbraucht - so daß die Beschränkung auf diesmal nur neun Einladungen, davon zweimal die ohnehin ortsansässige Baracke des Deutschen Theaters Berlin, nicht nur Konzeption, sondern auch Konzession und Kompromiß verrät.Schleefs "Salome" allerdings schwankt zwischen Exerzitium und Exorzismus: ein brüllender Chor, ein halbdutzend kreischende Spieler auf und über einem 60 Meter lang durch Parkett und Bühne laufenden Metallsteg.Trotz aufgedonnerter Kostüme oder vorblitzender Nacktheit, trotz allerlei jüdisch-christlicher Symbolik und einer Leonardo-da-Vinci-Anspielung zitiert Schleef in Düsseldorf optisch, akustisch, szenographisch immernur Schleef, und nichts weist an diesem formal manierierten, inhaltlich blassen Abend über das Theater ums Theater hinaus.Der Fall "Sportstück" ist ein anderer, ein anderes Kaliber.Sport ist hier Mord, eine Abart von Krieg, Bürgerkrieg und Männerwahn - gegen den Elfriede Jelinek in riesigen, epischen Wechselreden ihre diesmal selbstironisch unterfeuerten Frauenphantasien ins Feld führt.Es geht in Canettis Sinn auch um "Masse und Macht", es geht zudem um "griechische Chöre" (ein Wunsch der Autorin) und folglich: um Pathos, Theatralik, Rituale.Auf dieser Stätte nun ist Schleef, ein letzter Tragiker, wahrlich zu Hause.Auch wenn er Elfriede Jelineks Texturen nur als Stoffe und Folien für seine Eigenmacht und Eigenart nützt, erfüllt dieses sechsstündige Massenspektakel aus Wien gewiß die Theatertreffen-Kriterien des "Bemerkenswerten", des Diskussionswürdigen und Kontroversestiftenden.Als "Geheimtip" unter den Giganten gilt Andreas Kriegenburgs und (Thomas Braschs) Version von Ibsens grünem Politiker-Drama "Ein Volksfeind" aus Hannover.Damit wird auch die um jüngere Regisseure und die Förderung neuer Autoren bemühte Arbeit des hannoverschen Intendanten Ulrich Khuon gewürdigt.Ob daneben nun, wie im letzten Jahr aus Hamburg und zwischenzeitlich auch aus Wien, ein drittes Mal Elfriede Jelineks "Stecken, Stab und Stangl" in Berlin gezeigt werden muß, jetzt in Kazuko Watanabes Inszenierung aus Leipzig, ist eher die Frage.Die Einladung gilt wohl auch der Bühne aus einem neuen Bundesland; aber eine so herausragende, ästhetisch und zeitgeschichtlich bemerkenswerte Inszenierung wie beispielsweise Vladimir Sorokins "Pelmeni" von den Münchner Kammerspielen (Regie Peter Wittenberg) wurde dafür mißachtet.Sorokins Parabel auf die Neuen Russen hätte dramatisch und dramaturgisch auch zu den zeitgenössischen Stücken Thomas Ostermeiers und der Berliner DT-Baracke gepaßt: zu "Messer in Hennen" von David Harrower und "Shoppen & Ficken" von Mark Ravenhill.Das Votum für Ostermeier, den künftigen Schaubühnen-Chef, dessen phantasievoll ernsthaftes Metier-Bewußtsein tatsächlich auch an den jungen Peter Stein erinnert (der seinerseits mit dem englischen Sozialstück "Gerettet" von Edward Bond vor 30 Jahre seine Karriere begann), diese Wahl ist eine zweifelsfrei richtige, wichtige Entscheidung - obwohl "Shoppen & Ficken" als schmales, schales Stückchen nicht eben für eine kühne neue Dramatik steht oder, für sich genommen, schon einen Aufbruch des Theaters in die Gegenwart signalisiert.Die grandiose Begrüßung durch Marthaler.Und den Abgesang des 35.Theatertreffens machen die alten Meister.Thomas Bernhard, Samuel Beckett und George Tabori.Dabei erinnert der demnächst 84jährige ungarische Regisseur und Autor mit dem britischen Paß mit seiner Wiener Inszenierung des "Endspiels" noch einmal an frühere Triumphe: als Thomas Holtzmann und Peter Lühr bei Tabori in München die beiden weltläufigen Landstreicher aus der Probensituation zweier Schauspieler virtuos in Becketts Exilanten, Eremiten und Endspieler verwandelten; als Gert Voss und Ignaz Kirchner in der Wiener Uraufführung von Taboris "Goldberg-Variationen" gleichfalls aus einem Theaterduo, Regisseur und Assistent, ein übergreifendes Paar machten, Herr und Knecht, Gott und Mensch.Jetzt spielen Voss und Kirchner wieder zusammen und stellen das ganze "Endspiel" als Probe vor, mit wunderbar witzigen Improvisationen und praktisch ohne Requisiten.Voss als Hamm ist nochmals der Herr und Herrgott, und Herr Hamm, der Dichter und blinde Seher, sitzt nun wirklich auf einem schäbigen Schemel und keinem Theaterthron, und der Theaterraum, der bei Beckett auch ein Weltraum ist (die abgründige Leere), ist hier nicht mehr als der leere Raum der Probe, die im Theater immer eine Probe meint auf die Existenz.Das Spiel aber heißt hier wie in Becketts französischer Urfassung "Fin de Partie": nicht aus Prätention, sondern als Zeichen des Abschieds.Tabori meint sein Ende des Spiels, in Wien.Als nächstes inszeniert er Michelangelo, Schostakowitsch und Mozart in Berlin, dann, nach der "Zauberflöte", soll die Erzählung des eigenen Lebens folgen.Im Buch.Aus einem Buch, aus Thomas Bernhards Roman "Alte Meister" ist erst in Frankreich, dann letzten Herbst in Hamburg und am Deutschen Theater Berlin eine Theaterfassung entstanden.Der Musikphilosoph Reger, der Privatgelehrte Atzbacher und der Museumsdiener Irrsiegler treffen sich und reden im Wiener Kunsthistorischen Museum aufeinander ein.Man feiert die Kunst, indem man die alten Meister, die DürersMozartsBrucknersHeideggers des höheren, tieferen Stumpfsinns bezichtigt.So manisch, komisch, geistreich wie Bernhards Suaden, ist Cristof Nels Hamburger Inszenierung zwar nur in der ersten Stunde, dann beginnen die vorzüglichen Akteure auch das Gesagte zu illustrieren, zu verdoppeln.Das gefährdet das sonst bissige Vergnügen.Aber ein Endspiel auch hier, statt des Verharrens die Verwünschung.Von den "Comedian Nihilists" hat da ein wahrer Witzbold gesprochen.Am Ende aber geht man bei Bernhard ins Burgtheater, und: "Die Vorstellung war entsetzlich."Das ist der letzte Satz.Nun also kann selbst der Direktor das Burgtheater verlassen - Peymann auf dem Weg nach Berlin.Auch ohne Theatertreffen. Es gibt noch KartenFür folgende Vorstellungen des 35.Theatertreffens sind noch Karten erhältlich: 2.Mai, 20.15 Uhr, Schiller Theater, "The Unanswered Question" (Marthaler/Henneberger) für 40 bis 98 DM.6., 7., 8.Mai, 19 Uhr, Freie Volkbühne, "Ein Volksfeind" (Ibsen/Kriegenburg) für 25-65 DM.11.u.12.Mai, 19 Uhr, Schiller Theater, "Salome" (Wilde/Schleef) für 25 bis 65 DM.16.Mai 14 u.20.15 Uhr, sowie 17., 18.Mai, 20 Uhr, Freie Volksbühne, "Fin de Partie" (Beckett/Tabori) für 25 bis 85 DM.20.u.21.Mai 15 Uhr, Schiller Theater, "Ein Sportstück" (Jelinek/Schleef) für 98 DM.Vorverkauf an den bekannten Kassen und bei den Berliner Festspielen, Budapester Straße 48, Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa 10-14 Uhr.Telefon: 030/ 254 89 254.

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