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Klein, aber oho. 15 Mädchen und Jungen im Alter von sechs bis zehn Jahren sind im Tanzstück „Enfant“ dabei.

© Gianmarco Bresadola

"Enfant" an der Volksbühne: Einer trage des anderen Last

Gratwanderung: Boris Charmatz führt an der Volksbühne die Tanzperformance „Enfant“ mit Berliner Kindern auf.

Von Sandra Luzina

Reglos liegt ein Kind auf der Bühne, die von einer absurd anmutenden Apparatur beherrscht wird. Zunächst setzt sich ein Kran mit einem Brummen in Bewegung. Mit metallischem Klacken reißt er ein Kabel los, das an verschiedenen Stellen des Theaterraums befestigt ist. Fast macht es den Eindruck, als ob sich die Volksbühne zum Ende der Spielzeit noch mal selbst zerlegt. Ein Maschinist ist weit und breit nicht zu sehen. Die Tanzperformance „Enfant“ von Boris Charmatz beginnt mit einem unheimlichen Maschinenballett. Und bald geraten auch die Performer in die Fänge der seelenlosen Maschinerie.

In „Enfant“ thematisiert Charmatz, wie die Erwachsenen auf Kinder blicken. Das Thema ist ein heißes Eisen und so hat die Performance für neun Tänzer und eine Gruppe von Kindern denn auch international für Aufsehen gesorgt. Seit seiner Uraufführung beim Festival von Avignon 2011 wurde das Stück auf allen großen Festivals gezeigt, in Berlin war es 2012 bei „Foreign Affairs“ zu sehen. Nun hat Charmatz das Stück mit 15 Berliner Kindern zwischen sechs und zehn Jahren neu einstudiert. Es wirkt heute fast noch düsterer, was nicht nur daran liegt, dass man sofort an die erschreckenden Bilder aus den USA denkt, wo die Kinder mexikanischer Einwanderer von der Politik als Geiseln genommen werden.

Die Kinder mutieren zu willenlosen Objekten

Charmatz’ Stück ist immer noch eine Gratwanderung. Nicht nur weil die Kinder darin von Erwachsenen angefasst werden, was durchaus für Diskussionen sorgt. Sondern weil sie in den Händen der Tänzer zu willenlosen Objekten mutieren. Objektiviert werden anfangs auch die Erwachsenen: Ein Kran schleift zwei Tänzer über die Bühne, zieht sie hoch, senkt sie ab, katapultiert sie wieder in die Höhe, so als würde die Maschine mit ihnen ein grausames Spiel treiben. Schon die völlige Passivität der Erwachsenen, die in den Seilen hängen, ist irritierend. Wenn dann aber die Tänzer erschlaffte Kinderkörper auf ihren Armen auf die Bühne tragen, ruft das sofort ein Gefühl der Bedrohung hervor. Die Kleinen wirken anfangs, als schliefen sie. Unschuldig und verletzlich sehen sie aus, schutzlos werden sie den Blicken ausgeliefert.

Die Aktionen der Tänzer lassen keine Fürsorge erkennen, sind aber auch anfangs nicht besonders rabiat. Mit einer nüchternen Geschäftigkeit bewegen sie die zerbrechlichen Körper. Sie tragen sie vor dem Bauch, werfen sich die Kinderleiber über die Schulter, stemmen sie in die Höhe, laden sie auf einem anderen ab. Sie ziehen und zerren die Kleinen an Händen und Füßen. Die kraftlosen Arme von zwei Kindern werden so bewegt, als ob sie sich gegenseitig schlagen. Die Kleinen lassen alles reglos über sich ergehen.

Es sind keine eindeutigen Bilder, in denen Boris Charmatz die Macht der Erwachsenen ganz körperlich vor Augen führt. Als Zuschauer fühlt man sich fast schon wie ein Voyeur, wenn man mit ansehen muss, wie die Kinder permanent manipuliert werden, wie sie den Erwachsenen ausgeliefert sind, die ihnen ihren Willen aufzwingen. Aber man kann auch die Ohnmacht der fremdbestimmten Kinder nachempfinden. Assoziationen zu Kindesmissbrauch stellen sich ein. Zudem hat Boris Charmatz mit Erinnerungen an seinen Vater gearbeitet, der als Kind vor den Nazis fliehen musste. Doch der französische Choreograf vermeidet alles konkret Politische, „Enfant“ hat etwas von einem dunklen Traum, die Performer scheinen von unbewussten Kräften gelenkt zu werden.

Das Verhältnis zwischen Groß und Klein kehrt sich um

Auf die totale Kontrolle folgt deren Verlust. Die Männer und Frauen, die wie eine Schattenarmee wirkten, reißen sich die Kleider vom Leib und geraten außer Rand und Band. Die Kinder, die wie schlummernd am Boden liegen, halten dem Chaos zuerst ihre zarten Stimmen entgegen. Und folgen dann dem Dudelsackspieler, der an den Rattenfänger von Hameln erinnert.

Die Verhältnisse zwischen Großen und Kleinen kehrt das Stück nun um. Die Kinder, eben noch willenlose Objekte, werden auf einmal zu autonomen Wesen. Und zu selbstbestimmten Tänzern. Sie führen keine Dressurakte in rosa Trikots auf wie im Kinderballett. Und wenn der Song „Billie Jean“ von Michael Jackson erklingt, wird die Aufführung nicht zur Mini-Playback-Show.

Die Berliner Gören sind eine Wucht! Sie rennen, springen und stampfen mit einer anarchischen Energie über die Bühne und zeichnen ganz zart die Konturen eines Traums nach. Und dann sind sie es, die die Großen lenken, zu zweit oder zu dritt bewegen die Zwerge nun die schweren Leiber.

Auch wenn „Enfant“ heute fast noch beklemmender wirkt, so schafft Charmatz es doch, dass man die Welt mit den Augen der Kinder betrachtet. Am Ende bleibt die Hoffnung, dass sie es einmal besser machen werden.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, noch einmal Sa 23.6., 19.30 Uhr

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