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Enter the Void kommt am Donnerstag ins Kino.

© dpa

Enter the Void: 2010, Odyssee in Tokio

Der Extremfilmer Gaspar Noé und seine umwerfende Jenseits-Vision "Enter the Void" geht in eine Richtung, mit der der Zuschauer nicht rechnet.

Seine erste Droge? Das war 1970, da war er sechseinhalb. Die Eltern nahmen ihn mit in einen ziemlich neuen Film, Stanley Kubricks „2001“, und wegen der Schlussszene mit dem Fötus haben sie ihn gleich noch umfassend aufgeklärt. Mit acht und mit zehn hat er den Film noch mal gesehen, und erst mit 13, da war er ein argentinisches Exilkind in Paris, kamen die zwei „enormen Joints“ dran, mit einem Freund auf einer Brücke in der Nähe der Bastille, „und die Brücke, war sie nun aus Zement oder aus Asche, ich hatte solche Angst, dass sie einstürzt“. Dann kamen das LSD und die Pilze, „für Kokain bin ich viel zu nervös“, und ganz zuletzt hat ihn Ayahuasca umgehauen. Über Ayahuasca kann man nachlesen, dass die Indios Süd- und Mittelamerikas dafür das Dimethyltryptamin (DMT) der Psychotria viridis mit den Substanzen der Banisteriopsis caapi zu einem bombastisch halluzinogenen Baumsaft verquirlen, aber das wäre jetzt viel zu umständlich für Gaspar Noé, diesen Schnellstredner auf Autopilot. „Und dann fragte ich mich, wie konnte ich bloß die Erfahrung mit Ayahuasca in Filmbilder übersetzen, das ist so verrückt, wie eine Partitur lesen zu wollen, wenn man gar keine Noten schreiben kann, und überhaupt, die Rakete geht immer in eine Richtung ab, mit der hast du jetzt aber gar nicht gerechnet.“

Auch „Enter the Void“ geht in eine Richtung ab, mit der hast du jetzt gar nicht gerechnet. „Enter the Void“ ist erst Gaspar Noés dritter langer Spielfilm, dabei geht der Mann auf die Fünfzig zu, aber das macht nichts. Der Film spielt in Tokio, er ist zweieinhalb Stunden lang, aber eigentlich kommt er einem – das wäre jetzt der Ayahuasca-Effekt – vor wie ein Zehnstünder, der ewig mäandernde Traum einer langen Nacht. Die Geschwister Linda (Paz de la Huerta) und Oscar (Nathaniel Brown) leben in einem vermüllten Apartment im Tokioter Sexdistrikt Kabukicho, sie jobbt als Stripteasetänzerin und hat den Barbesitzer in sich verliebt gemacht, er dealt ein bisschen mit DMT und anderem Zeugs und raucht es selber. Seine Kumpels sind Alex (Cyril Roy), ein superkaputter Typ mit Herz, und Victor (Olly Alexander), und Victor lockt Oscar in den Club The Void, mitten in eine Razzia. Oscar verbarrikadiert sich im versifften Stehklo, spült panisch die Drogen weg, dann ein Schuss durch die Tür, und Oscar stirbt. Das heißt: Er sieht sich sterben, er sieht das Blut an seinen nackten Unterarmen und Händen, er sieht sich daliegen auf dem Fußboden, das Gesicht im Dreck. Plötzlich Stille, und das ist erst der Anfang.

Fünfzehn Jahre hat Gaspar Noé von „Enter the Void“ geträumt und allein anderthalb Jahre an den visuellen Effekten rumgebastelt, letztes Jahr wurde er bis Cannes nicht ganz fertig, aber das Festival zeigte den Film im Wettbewerb, und dann badete er in Buhs und Applaus. Wenn Gaspar Noé jetzt darüber spricht, der seit seinen blutigen Epen „Seul contre tous“ (1998) und vor allem „Irréversible“ (2001) weithin gehasste und da und dort geliebte Skandalfilmer, dann klingt das, als käme er für den zwanzigsten Kaffee des Tages mal eben aus dem Schneideraum. „Der erste Teil, also die halbe Stunde mit der subjektiven Kamera bis zu Oscars Tod, das ist das echte Tokio, auch der zweite Teil, der mit den Rückblenden, nur den dritten, den Flug Richtung Reinkarnation, den haben wir im Studio nachgebaut, mit Räumen ohne Decke für die Schauspielerszenen, aber die Flüge dazwischen über die Stadt, das sind Computerbilder mit falschen Autos und falschen Menschen, bis auf den Hubschrauberflug mit dem nächtlichen Stadtpanorama, aber da war ich nicht dabei, ich hatte Angst, mitzufliegen, ich misstraue der Elektronik.“

Ganz recht, drei Teile sind es. Sehr ordentlich, das alles. Bis die Kamera in die Draufsicht wechselt und den Sterbenden in den Blick nimmt, sieht der Zuschauer alles mit den Augen Oscars, den Lidschlag alias Schwarzfilm inbegriffen. Der Blick zurück geschieht nicht im Zeitraffer, wie man aus überlieferten Nahtoderfahrungen weiß, sondern in sich verlangsamenden Zeit- und Bildschleifen, wobei die Kamera dem Kind Oscar über die Schulter sieht: Das warst du, in Szenen, mit Menschen, es gab dich, du lebtest. Blutsgeschwisterschwüre mit Linda zum Beispiel, erst noch verspielt, dann als lächelnde Erinnerung der Heranwachsenden, da sind ihre Eltern schon eine Weile tot. Oder die Rückblende, wie Oscar seine Schwester nach Tokio lockt und ihren Flug mit ersten Deals finanziert. Später, seine Seele löst sich immer mehr vom Körper, ist er das fliegende Auge selbst, das sich von Linda nicht lösen mag, Linda, seiner Erlöserin. In Cannes haben sie hektisch gelacht darüber, wie Noé die Wiedergeburt Oscars inszeniert. Erst viele kopulierende Paare in den Kammer-Kokons eines Tokioter Love-Hotels, dann der glühende Koitus aus der Innensicht, bis das Spermafädchen dem Eizellen-Planeten entgegenjagt. Sex und All, Vorgeburt und Nachtod, Makrokosmos und Mikrokosmos vereint. So was muss man, 40 Jahre nach Kubrick und in der Bilderwelt eines fade anhebenden Jahrtausends, erst mal wagen.

Sind Sie sexbesessen, Monsieur Noé? Eine Sekunde Schweigen, ausnahmsweise. „Sex nimmt viel Raum in meinen Gedanken ein. In Amerika hätten sie mich bestimmt längst in eine Entziehungsklinik gesteckt. Klar liebe ich die Frauen, eine Welt nur aus Männern wäre furchtbar, bloß Krieg und Gewalt. Aber der kalte Sammler-Sex interessiert mich nicht. Ich bin gefühlssüchtig.“

Das ist es, was „Enter the Void“ vor allem auslöst, als Grundton seines Rauschens, als Urgrund seines Zweieinhalbstundenrauschs: das Gefühl vollendeter Verlassenheit einer sterbenden Seele, nur noch Zeuge ihrer Erinnerungen und eines ewigkurzen Danach, bevor sich alles in einen gleißenden Trost fügt. Die Kommunikation, jenes Glasfibertau, das Leute mit dem Leben so selbstverständlich verbindet, ist gekappt wie eine Nabelschnur. Der Rest ist Sehen. Der Kinozuschauer wird zum Lebenszuschauer Oscar und fliegt mit ihm, von Flash zu Flash, durch die Rand- und Zwischenzone, herausgerissen aus Raum und Zeit. Das ist mal beängstigend, mal irritierend und, aufs Ganze gesehen, eine umwerfende Vision. Wie die Kamera, Gottes vagabundierendes Auge, über die Stadt taumelt. Wie sie in Interieurs verharrt, die Linse zum Fischauge weitet und sich ins nächste Stroboskopgewitter stürzt. Wie hier jemand vor keiner Assoziation, keinem Traumbild haltmacht, aus purer Lust an jenen Reisen, wie sie nur die Droge Kino eröffnet: Das ist vor allem was für Leute, die die Unvernunft lieben.

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