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Kultur: Enthüllung

Der Goldene Bär der Berlinale – ein Skandälchen und ein Schock

Der Vorhang ist gefallen, nach einem Finale mit Glanz und Gloria. Nun wird er noch einmal aufgerissen – für ein Nachspiel aus Schmutz und Schmuddel. Die Berlinale bekommt ein Postskriptum, das als besonders kurios in ihre Geschichte eingehen wird: Sibel Kekilli, die junge Hauptdarstellerin des mit dem Goldenen Bären preisgekrönten Films, hat sich eine Zeitlang ihr Geld als Pornodarstellerin verdient. Skandal!, schreien die einen. Na und?, möchte man mit berlinerischer Gelassenheit antworten.

Für „Gegen die Wand“, den wuchtigen Film von Fatih Akin, bedeutet die „Enthüllung“, wie Deutschlands Boulevard-Oberpostille schreibt, überhaupt nichts. Jedenfalls nichts nachhaltig Negatives. Vielleicht haben das auch die im Porno-Genre offenbar besonders recherchefesten Enthüllungskollegen gemerkt, die die Berlinale-Sieger erst mal haben glücklich feiern lassen, bevor sie mit ihrer reich bebilderten Schmuddel-Story rausrückten. Derlei Details sind schon morgen nichts weiter als Fußnoten – wie die Karrieren von Lisa Fitz oder Ingrid Steeger, Heiner Lauterbach oder Konstantin Wecker beweisen, die ebenfalls in frühen Jahren gestalterische Bekanntschaft mit Erscheinung und Wesen des Sexfilms gemacht haben.

Denn ein Skandal – oder zumindest ein Schock, einer der heilsamen, öffnenden Art – wird der Film erst noch werden. Wenn er demnächst sein zweifellos großes Publikum sucht, sein deutsches, sein türkisches, sein deutschtürkisches und türkischdeutsches Publikum. Dann wird „Gegen die Wand“, dessen Festival-Erfolg nun sehr zur Freude seines Regisseurs von beiden Ländern gefeiert wird, seine wilden, schmerzhaften Fragen vor denen herausbrüllen, die er wirklich angeht. Denn der Film mag kein Meisterwerk sein, wohl aber ein mit ungeheurer Verve herausgeschleudertes Pamphlet. Er wird das deutsche Kino verändern. Er wird das Selbstverständnis der türkischen Zwei-Millionen-Gemeinde in Deutschland verändern. Und er wird das Bewusstsein unseres Zusammenlebens verändern. Wie man vermuten darf: zum Guten.

Denn was macht diese Sibel in dem Film? Sie will frei sein, um jeden Preis, oder tot. Sie belügt ihre Eltern – und heiratet einen Türken nur zum Schein, der ihre Eltern ebenfalls belügt. Sie geht „ficken“, wie es ihr passt; das ist die Ehe-Vereinbarung – und schon die Selbstverständlichkeit, mit der sie das grobe Wort ausspricht, ist Schock genug. Irgendwann geht sie fast zugrunde an diesem Freiheitsanspruch, aber der Film denunziert sie nicht, sondern macht sie nur umso mehr zur Identifikationsfigur für den brennenden Wunsch nach selbstbestimmten Leben. Ja, dieser Film wird Deutschland einen Modernisierungsschub im Denken verpassen.

Einen längst überfälligen, wie man hinzufügen darf. Denn in England etwa, in Frankreich ist das Kino als Bewusstseinsbildungsmaschine viel weiter. Das New British Cinema hat schon vor 20 Jahren, das französische cinéma beur der Vorstädte vor zehn Jahren längst vorgemacht, wie man die bi- und multikulturellen Wirklichkeit vor unseren eigenen Augen in universelle Alltagsgeschichten fassen kann. Und hat damit den jeweiligen nationalen Selbstbegriff stetig mit verändert. Zu schweigen von den Kino-Dramen aus Little Italy in Amerika, zu schweigen von Spike Lee, der dem Kino der schwarzen Amerikaner Bilder und Stimme gab.

Deutschland lebt mit seiner Multikulturalität, mit dem Nebeneinander der Religionen und Konventionen seit nunmehr 40 Jahren – aber erst der Berlinale-Erfolg für Fatih Akin katapultiert das Thema, das Filmregisseure in kleinen Filmen behutsam seit einiger Zeit anspielen, mit einem Schlag nach vorn. Was wird er in türkischen Familien verändern, welche Risse finden da mit Sibels Leidensweg plötzlich ein Artikulationsfeld? Wie wird sich durch diesen Film der Blick der in Vielem zumindest in den Großstädten moderneren Türkei auf ihre Landsleute in Deutschland verändern? Sind die deutschen Metropolen-Hinterhofkieze, die sich unmerklich in Gettos verwandeln, nichts weiter als ein riesiges, zersplittertes, außer Landes geworfenes anatolisches Dorf?

Das alles wird debattiert werden, wenn „Gegen die Wand“ ins Kino kommt. Und sollten die reißerischen Schlagzeilen des Tages – „Goldener Bär für Pornostar“, titelt etwa n-tv online – seinen Erfolg noch mehren, nur zu! Denn die „rassige Sibel“, wie die „Bild“- Zeitung sie zu nennen beliebt, spielt in diesem Film um ihr Leben. Nun also kennen wir ein Detail ihrer bislang so kurzen 23-jährigen Biografie besser, aber warum auch nicht? Warum sollte die Schauspielerin nicht mindestens so frei sein wie ihre Figur – so antikonventionell, wie die deutsche und türkische Community sich das in ihren lustvollen Alpträumen nur ausmalen mag? Heucheln können wir selber.

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