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Kultur: Entwurzelt

Kerr-Ausgabe: Letzter Band wird vorgestellt.

Im Dezember 1927 steht Alfred Kerrs 60. Geburtstag bevor. Gebeten, selbst einen Beitrag für (s)eine Festschrift zu verfassen, entwirft er den autobiografischen Text „Lebenslauf“. Zu diesem Zeitpunkt liegen bereits sieben Bände seiner Gesammelten Schriften zum Theater, zur Literatur und Zeitgeschichte vor. Der aus Breslau gebürtige Berliner Starkritiker, Essayist, Reiseschriftsteller, Dichter ist neben Kurt Tucholsky der berühmteste Publizist der Hauptstadt, ja: wohl des Landes.

Also schreibt Alfred Kerr in seinem „Lebenslauf“, den man jetzt zum Abschluss der großen,von Günther Rühle herausgegebenen Kerr-Ausgabe in dem Band „Das war meine Zeit. Erstrittenes und Durchlebtes“ wieder lesen kann: „Ich glaube, daß die Sprache meine Sendung hienieden war: zugunsten Deutschlands.“ Doch Kerr, der so selbstbewusste Erfolgsautor, notiert auch: „Ich glaube, jetzt in Deutschland anerkannt, nicht erkannt zu sein.“ Der Satz kommt direkt nach einer Passage, in der er sich aus seiner Feder Arbeit „mehr Geld, als ich verbrauchen konnte“ bescheinigt und die Freude, im Jahr vier Monate reisen zu dürfen, „wohin es mich zog“. Kerr hat als junger Journalist Bismarck getroffen, verkehrte mit der Theaterdiva Eleonora Duse und mit Albert Einstein, er wurde von der Familie Henrik Ibsens an dessen Totenbett gebeten. Dennoch: nicht erkannt? Oder gar: verkannt?

Solche Funde, solche Fragen, auf die ein einlässliches Nachwort von Günther Rühle und die klugen Kommentare von Deborah Vietor-Engländer Antworten versuchen, machen den von Vietor-Engländer edierten Band zum Ereignis. Kerrs biographisches und berufliches Panorama passiert hier noch einmal Revue: von der detailreichen Reportage aus London vom Sozialistischen Weltkongress 1896 über den Streit mit Karl Kraus und Bert Brecht bis zu „Letzten Mitteilungen“ vom 10./11. Oktober 1948, die Kerr auf dem Totenbett im Britischen Militärkrankenhaus Hamburg hinterlässt.

Der im Februar 1933 aus Berlin über Prag in die Schweiz geflohene, mit der Familie nach Paris und dann 1935 nach London übersiedelte Kerr war im Exil ein Entwurzelter. Seiner Sprache und ihrer Wirkung beraubt. Aus einer jüdischen schlesischen Familie stammend und von den Nazis ganz oben auf ihre Verfolgungslisten gesetzt, hing er an Deutschland. An der deutschen Kultur, zu der er Hitler und die Seinen nicht zählte. Schicklgruber, wie er den „Führer“ oft nennt, dieser „kannibalische Fatzke“, bedeutete nur Barbarei.

So sehr er Hitler als Person verachtete, so wenig hat Kerr die Bedrohung vor 1933 unterschätzt. Das mag mitschwingen im Zweifel, ob er in Deutschland tatsächlich (an)erkannt sei. Nach 1945 aber will er die alte Heimat wiedersehen, beginnt wieder für deutsche Zeitungen zu schreiben und notiert erschüttert, was er in den Ruinen Nürnbergs, dem Ort Dürers und später der NS-Reichsparteitage, beobachtet: „Das war eine Stadt; und ist eine Schutthalde. Das war gemütlich-bürgerlich; und ist ein Grauen. Ein Grauen ohne Tragik; nur noch was Unangenehmes.“

Seine letzten Zeilen schreibt der 80-Jährige am 11. Oktober 1948. Am nächsten Tag endet dann Kerrs Leben. Doch wird man ihn auch über diesen Band hinaus bald noch weiterlesen können. Denn in polnischen Archiven haben Deborah Vietor-Engländer und Günther Rühle verschollene Kerr-Texte wiederentdeckt, Beiträge etwa für die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ ab dem Jahr 1900. Neun dieser Stücke sind hier als Vorgeschmack auf eine spätere Edition bereits abgedruckt. Peter von Becker

Alfred Kerr: Das war meine Zeit. Erstrittenes und Durchlebtes. Hrsg. Deborah Vietor-Engländer. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 797 Seiten, 56 €. Thomas Schendel liest Texte Kerrs, musikalisch begleitet von Nico Stabel, am heutigen Freitag um 20 Uhr im Renaissance-Theater Berlin.

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