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Kultur: Epiker der Unterlegenen

Prophetisches Talent ist Martin Walser nicht abzusprechen.1978, elf Jahre vor dem November der Wende, sagte er: "Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte, so schlimm sie zuletzt verlief, in einem Katastrophenprodukt auslaufen zu lassen".

Prophetisches Talent ist Martin Walser nicht abzusprechen.1978, elf Jahre vor dem November der Wende, sagte er: "Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte, so schlimm sie zuletzt verlief, in einem Katastrophenprodukt auslaufen zu lassen".Dieses Katastrophenprodukt trug für den Romancier die Kürzel DDR und BRD.In der Novelle "Dorle und Wolf", 1987 erschienen, thematisierte er den Phantomschmerz in einem geteilten Land.Die konservative Wende des früheren "Unterlegenheitsspezialisten" und bekennenden Anwalts des Kleinbürgertums ließ aufhorchen, zeigte sich hier doch ein ganz anderes Temperament als beim beständig sozialdemokratischen Günter Grass.Beide hatten sich einst, zu Willy Brandts Zeiten, in der Wählerinitiative der SPD engagiert.1994 ging Walser in seiner Volte einen Schritt weiter und verteidigte die politischen Disqualifikanten Philipp Jenninger und Steffen Heitmann.Den Helden seines jüngsten Romans, des tragischen Beamtenränkespiels "Finks Krieg", Stefan Fink, läßt er leitmotivisch sagen: "Die Mächtigen sind wie ein Beethoven ohne Musik." Aus seiner Sicht ist sich Walser durch seine 14 Romane, zahlreichen Erzählungen, Essays und die Theaterstücke hindurch treu geblieben: "Nur wer sich schreibend verändert, ist ein Schriftsteller."

Martin Walser, vor 71 Jahren in Wasserburg am Bodensee geboren, wird am 11.Oktober in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.Büchner-Preisträger ist er längst.Nach der heftig befehdeten Orientalistin Annemarie Schimmel hatten den mit 25.000 Mark dotierten Friedenspreis zuletzt die Schriftsteller Mario Vargas Llosa und Yasar Kemal erhalten.Die Auszeichnung komme "zur völlig richtigen Zeit", kommentierte Walsers Verleger Siegfried Unseld die Entscheidung des Börsenvereins.Er hob vor allem Walsers Entwicklung "vom Heimatdichter über den alemannischen und deutschen Schriftsteller zu einem vorbildlichen europäischen Autor und Vordenker" hervor.Der Suhrkamp Verlag hatte zu Walsers 70.Geburtstag im letzten Jahr eine zwölfbändige Werkausgabe vorgelegt.Zum 150.Jahrestag der Revolution in Baden erschien zuletzt sein Essay "Der edle Hecker, unsere Geschichte, wir beziehungsweise du und ich".

Walser debütierte 1955 mit dem Band "Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten", doch erst "Ehen in Philippsburg", eine dreiteilige Saga über das Karrierestreben des Kleinbürgers Hans Beumann, sollte seinen Ruhm als Epiker des bundesdeutschen Alltags begründen.Der Roman trug dem Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks den Hermann-Hesse-Preis ein.Anpassung oder Untergang - dieser sozialdarwinistischen Alternative versuchen die einsilbigen Helden der Folgeromane - sie heißen Zürn ("Seelenarbeit"), Horn ("Jenseits der Liebe") oder Halm ("Ein fliehendes Pferd", "Brandung") - nicht zuletzt durch Tagträume auszuweichen.Es ist kein Zufall, daß die Romane häufig im Bett beginnen und enden.Die Studienräte, leitenden Angestellten und Werbetexter a.D.sind Leidende, stille Dulder.Herr-Knecht-Verhältnisse schlagen sich wie beim Chauffeur Gottfried Zürn aus "Seelenarbeit" in psychosomatischen Krankheiten nieder.Spätestens die Anselm-Kristlein-Trilogie, sie umfaßt die Romane "Halbzeit" (1960), "Das Einhorn" (1966) und "Der Sturz" (1973), markierte in ihrer Melange aus Ironie, Einfühlungsvermögen und Gesellschaftssatire die endgültige Manifestation des Walser-Tons.Martin Walser, auch und vor allem ein Familienchronist von hohen Graden, hatte den Zeitgeist getroffen, lange bevor dieser Begriff zur bloßen Vokabel verkam.In "Ohne einander" von 1993, einer Parodie der hochglänzenden Medienstadt München und ihres Personals, ließ er diesen Ton noch einmal aufleben.Wie anders dagegen die Grundmelodie des Dresden-Romans "Die Verteidigung der Kindheit", 1991: Der Erzähler solidarisiert sich mit dem - einsilbigen - Helden, dem Juristen Alfred Dorn, und dessen aussichtslosen Kampf gegen das Vergessen.Für diesen Herbst wird der autobiographische Roman "Ein springender Brunnen" erwartet, eine narrative Rückkehr des Gastwirtssohnes Martin Walser an den heimatlichen Bodensee.

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