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Kultur: Erich und die Detektive

"Die Bleistifte sind messerscharf gespitzt.Die Federhalter haben frisch getankt.

"Die Bleistifte sind messerscharf gespitzt.Die Federhalter haben frisch getankt.Die neuen Farbbänder zittern vor Ungeduld." Vor hundert Jahren wurde Erich Kästner geboren."Die Schreibmaschinen scharren nervös mit den Hufen.Die deutsche Kultur und die umliegenden Dörfer halten den Atem an.Es kann sich nur noch um Sekunden handeln.Da! Endlich ertönt der Startschuß." Das Kästner-Derby läuft auf Touren.Eine satirisch-melancholische 100-Jahr-Strecke, ein literarischer Hürdenlauf durch die deutsche Geschichte unseres Jahrhunderts.

Das Deutsche Historische Museum in Berlin und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar stellen große Jubliläumsausstellungen zu Leben und Werk von Erich Kästner vor, mehr oder weniger komplette Ausgaben seiner Bücher liegen in verschiedenen Verlagen vor, sieben Biographen buhlen um die Gunst der Buchkäufer.Allgemein zeichnet sich ein Kästner-Boom ab, der alles in den Schatten stellen könnte, was uns zuletzt das Brecht-Fontane-Jahr beschert hatte.Die broschierte Werkausgabe des Hanser Verlages und eine bei Piper erschienene Biographie waren innerhalb weniger Wochen vergriffen.

Erich Kästner ist ein deutsches Phänomen, gekennzeichnet von der ihm eigenen Mischung aus Sentiment und Satire, aus Moral und Frivolität.Er verstand sich als Aufklärer und war doch auch ein Romantiker, dessen kunstvolle Beschränkung auf einfache Formen ihn zum Erfolgslyriker werden ließ.Warum viele Soldaten während des letzten Weltkrieges seine "Gebrauchslyrik" in Abschriften bei sich getragen haben, erklärt die "seelische Verwendbarkeit" seiner Versen, ihre Brisanz gegen jene recht deutsche Mischung aus Gehorsam, Gewaltbereitschaft und Dummheit.Kästners Erfolg erklärt sich darüber hinaus aus seiner Rolle, als Zuschauer des Weltgeschehens, ganz im Geiste seiner Romanfigur Jakob Fabian, Gesänge zwischen den Stühlen zu schreiben - Erich Kästner - ein sehr deutscher Klassiker zwischen Ossietzky und Rühmann.

Sein Lebensweg legt Zeugnis ab.So folgte auf Kästners literarischen Durchbruch mit vier Gedichtbänden, mit "Emil und die Detektive" sowie mit "Fabian" 1933 die Verbrennung seiner Bücher.Ihr als "Kulturbolschewist" verfemter Autor hat das Propagandaspektakel inkognito auf dem Berliner Opernplatz miterlebt.Zwölf Jahre lang schrieb der "gekränkte Idylliker" (Kästner über Kästner) unter verschiedenen Pseudonymen Drehbücher und harmlose Unterhaltungsliteratur.Mal hatte er vom Propagandaminister eine "Sondergenehmigung", mal war er wieder verboten.Ab Januar 1943 erhielt Kästner endgültig Berufsverbot.Eine Bombe traf seine Wohnung in der Berliner Roscherstraße, er zog in die Sybelstraße zu Luiselotte Enderle.Kästner brauchte einen Stabilisator seines Alltags.So wie ihm bis dahin sein "liebes, gutes Muttchen" die frische Wäsche nach Berlin geschickt hatte, so umsorgte ihn Luiselotte Enderle bis zu seinem Tod 1974.

Nach 1945 bekannte sich Kästner zu seinen unterhaltsamen Kompromissen der dreißiger und frühen vierziger Jahre, immerhin hatte er sich den Nazis politisch verweigert.Bis heute wurde keine Zeile auf den Führer oder das Reich bekannt.Warum er nicht, wie viele seiner Freunde, emigriert war, begründete der bekennende Kleinbürger aus Dresden stets damit, er habe Studien für einen großen Roman über Nazideutschland Studien treiben wollen.Tatsächlich aber war es neben "Muttchen" seine Verwurzelung in der deutschen Sprache und seine Furcht vor Fremden, die ihn in Berlin verharren ließen.Nach Ende des Krieges hatten ihm Stefan Heym und Peter de Mendelssohn die Stelle als Feuilletonchef der damals von Hans Habe geleiteten "Neuen Zeitung" verschafft, doch auf den angekündigten Zeitroman wartete er vergeblich.Erleichtert, wieder publizieren zu dürfen, übernahm Kästner im zerstörten München verschiedene Aufgaben: Zusammen mit seiner Kollegin Hildegard (Hamm-)Brücher von der "Neuen Zeitung" half er beim Aufbau einer "Internationalen Jugendbibliothek".Für künftige Leser und Demokraten gab der Kinderbuchautor die Zeitschrift "Pinguin" heraus, für Erwachsene schrieb er Kabarettexte.

Auf Theaterpremieren, Bällen und Empfängen erschien er an der Seite seiner Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, die Nächte aber gehörten über Jahre hinweg drei, zeitweise auch vier Geliebten.Ohne voneinander zu wissen, genossen die Journalistin Ilse Heim, Barbara Pleyer, eine temperamentvolle Schauspielerin, die Theaterelevin Friedel Siebert und die Germanistikstudentin Helga Veith sowohl Kästners extravagante Erotik als auch seine fürsorgliche Freundschaft.Eine Schreibhemmung war wohl seine einzige Hemmung jener Jahre; ausgenommen von dieser Unlust am geschriebenen Wort waren Billets und Briefe von oft leidenschaftlicher Obszönität - "Küßchen aux dessous.Grüße von hier bis dort.Dein Emilchen".

Die einst geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die ersten Ostermärsche und der Vietnamkrieg repolitisierten den Pazifisten Kästner, insgesamt aber hatte er nach und nach den Glauben an die Belehrbarkeit des Menschen verloren und spülte diese ernüchternde Erkenntnis mit großen Mengen Whisky hinunter.Der Bürger in ihm hatte über den Bürgerschreck gesiegt.Er konnte die Wut von einst, die ihm die Feder geführt hatte, nicht mehr kreativ umsetzen und war zu einem abgeklärten Aufklärer geworden.

Die biographische Annäherung an Kästner gestaltete sich wechselhaft.So unterließ es Isa Schikorsky, für ihr "dtv-portrait" von Kästner die erhaltenen Archivarien in Berlin, München und Marbach einzusehen."Zahlreiche Abbildungen" in Briefmarkengröße und oft ohne direkten Bezug zum Text illustrieren Formulierungen und Allgemeinplätze.Kurz nach Auslieferung dieser "Originalausgabe" erschien eine um einige Peinlichkeiten bereinigte vom Verlag nicht als solche gekennzeichnete zweite Auflage.

Auch der Münchner Piper Verlag leistete sich zumindest für die zweite Auflage seiner Kästner-Biographie von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz (siehe Tagesspiegel vom 10.1.1999) eine Schlußredaktion, um die zahlreichen Fehler der Erstausgabe zu eliminieren.Das Autorenduo Görtz / Sarkowicz räumt der Frage, ob Kästners juristischer Vater, der Sattler Emil Erich Kästner, auch dessen genetischer Vater war, oder ob das "liebe gute Muttchen" vom jüdischen Hausarzt der Familie geschwängert worden war, reichlich Platz ein.Trotz vieler neuer Fakten bleibt es bei der von Werner Schneyder verbreiteten Mär vom "Halbjuden" Erich Kästner.Den endgültigen Beweis können Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz nicht erbringen.Einiges spricht für die Vaterschaft des später exilierten Arztes, mehr spricht allerdings für die Identität von Ida Kästners ungeliebtem Ehemann als biologischem und emotionalem Vater.Möglicherweise hat "Muttchen" das Gerücht, der renommierte Doktor Zimmermann sei der Vater, in Dresden gezielt verbreitet, um ihrem hochbegabten Sohn den Makel zu nehmen, ein Arbeiterkind zu sein.

Faktenreich, wenn auch nicht ganz auf dem Stand des Wissens ist Klaus Kordons zuletzt 1995 neu aufgelegte Monographie, die sich besonders an junge Leser wendet.Ihr Titel "Die Zeit ist kaputt.Die Lebensgeschichte des Erich Kästner" bezieht sich auf einen als systemfeindlich interpretierbaren Dialog aus dem Ufa-Film "Münchhausen", zu dem Erich Kästner die Idee hatte und für den er unter dem Pseudonym Berthold Bürger das Drehbuch schrieb.Ohne den bis vor kurzem nicht oder nur schwer zugänglichen Münchner Nachlaß zu kennen, schrieb Kordon eine Biographie mit vielen Querverweisen.

Ebenfalls aus sozialhistorischer Perspektive schildert Helga Bemmann, die verdienstvolle Biographin von Tucholsky und Ringelnatz, Werk und Wirkung Erich Kästners.DDR-eigene Floskeln aus der erstmals 1983 im "Verlag der Nation" erschienenen Monographie wurden für die bei Ullstein verlegte Neuausgabe revidiert.Um grobe Fehler bereinigt, wurde Luiselotte Enderles Rowohlt-Monographie anläßlich des Kästner-Jubiläums zum 78.tausendsten Mal verkauft.Was bleibt, ist das Werk einer bitter enttäuschten Lebensgefährtin, die das aushäusige Liebesleben ihres Lebensgefährten schließlich von Detektiven überwachen ließ.

Die bislang beste, da faktenreichste und originellste Kästner-Biographie ist dieser Tage im Hanser-Verlag erschienen.Der Münchner Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek ging allen Spuren zu Kästner nach, interviewte noch lebende Freunde und Geliebte, sprach mehrmals mit dem ansonsten abnorm öffentlichkeitsscheuen Sohn des Autors und stellt Kästners literarisches wie publizistisches Gesamtwerk in biographische Zusammenhänge."Keiner blickt dir hinter das Gesicht.Das Leben Erich Kästners" hält in aller Bescheidenheit mehr als der Titel verspricht: Klug und einfühlsam interpretiert der Biograph einzelne Gedichte, Romane, Theaterstücke und Drehbücher Erich Kästners.

Neben Standardtiteln bei Atrium und Dressler, wartet auch der Deutsche Taschenbuch Verlag mit neu ausgestatteten, hübschen Bänden auf.Die bereits zum Weihnachtsgeschäft ausgelieferte Ausgabe des Hanser Verlages mußte, schon aus verlagsrechtlichen Gründen, als Neuedition auf den Markt kommen.Neu ist zuallererst die schrille Aufmachung: bunte Bildchen auf einem schwer definierbaren Grundton zwischen apricot und prothesenfarben.Es scheint, als hätten die Transvestiten aus "Fabian" ins falsche Farbtöpfchen gegriffen.Nichts oder wenig Unbekanntes bieten die vier Bände mit Romanen für Kinder und Erwachsene, der Gedichtband sowie die literarisch völlig unbedeutenden Nacherzählungen Kästners von Werken der Weltliteratur.Statt dieser zweihundert Seiten hätte man besser daran getan, die von Hans Sarkowicz edierte Publizistik zu vervollständigen.Aus kalkulatorischen Gründen liegt nun abermals das journalistische Werk nicht nur unvollständig, sondern zum Teil ohne manche 1989 bei Atrium bereits veröffentlichten Arbeiten vor.Schade, denn hier gäbe es Kästner neu zu entdecken.Sorgfältig und ausführlich aber hat der Herausgeber die trotz des Rotstifts noch recht zahlreichen journalistischen Texte kommentiert.Allein dieser Band lohnt den Kauf der Hanser-Ausgabe.

Lesenswert ist auch die von Thomas Anz herausgegebene Zusammenstellung von Bekanntem und Ungedrucktem der Gattungen "Theater, Hörspiel, Film", ebenso der Band "Wir sind so frei.Chansons, Kabarett, Kleine Prosa".Vergnüglich zu lesen ist darin auch das launige Nachwort von Hermann Kurzke.Wer jedoch gehofft hat, in der neunbändigen Hanser-Ausgabe endlich einmal mehr als die x-mal publizierten Lyrikbände und einige "verstreute" Gedichte zu finden, der wird enttäuscht.Eine "Nachlese zur Nachlese" ist nicht genug.Es fehlen Dutzende, in den drei großen Werkausgaben bislang nicht gedruckte Gedichte von Erich Kästner.Sein hundertster Geburtstag wäre Anlaß genug für eine Gesamtausgabe seiner Gedichte gewesen! Soll "Die Entwicklung der Menschheit" in Sachen Kästner-Edition nicht auf den Bäumen hocken bleiben, müßte diese Ausgabe über eine "Nachlese zur Nachlese zur Nachlese" hinausgehen und auf einer CD-Rom alle mit Illustrationen korrespondierenden Texte vorstellen.Nur so könnten Zeitschriftenpublikationen wie Kästners wunderbares "Reichstags-Rommé" mit dem Untertitel "Jeder sein eigener Diktator.Ein lustiges Kartenspiel für ernste Zeiten" dem Vergessen entrissen werden.

Michael Bauer ist Autor der Fernsehdokumentation zu Erich Kästner, die am 23.Februar im SFB, 22.30 Uhr, ausgestrahlt wird

Kästner Literatur

Helga Bemmann: Kästner.Leben und Werk.Ullstein, 1994, 479 S., 19,80 DM

Luiselotte Enderle: Erich Kästner.Rowohlt, 1997, 157 S., 12,90.DM

Franz Josef Görtz, Hans Sarkowicz: Erich Kästner.Eine Biographie, Piper, 1998.371 S., 68 DM.

Isa Schikorsky: Erich Kästner, dtv, 1998, 159 S., 14,90 DM

Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht.Das Leben Erich Kästners, Hanser, 1999.472 S., 48,80 DM

Klaus Kordon: Die Zeit ist kaputt.Lebensgeschichte des Erich Kästner, Beltz & Gelberg, 1995.520 S., 48,80 DM.

Erich Kästner: Werke in neun Bänden, Hanser, 1998.TB, 98 Mark.

MICHAEL BAUER

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