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Kultur: Erinnern ist Macht

Opfer, Täter? Ungarn streitet um die Vergangenheit. Eine Tagung der Adenauer-Stiftung in Budapest  

Von Caroline Fetscher

In der Donau spiegelt sich der Budapester Winterhimmel. Oben liegt er graublau und still, auf den Wellen scheinen seine Farben zu fließen. Feststehen und Weitereilen, Schwermut und Aufbruch, Vergessen und Erinnern, zwischen diesen Zuständen oszilliert Ungarn, auf dem Weg nach Europa. Spaziergänger schlendern in der neuen europäischen Metropole an den Ufern von Buda und Pest entlang, Wendegewinnler kaufen auf der modernen Ladenzeile, der einstmals türkischen Vaci Utca, Kaschmirpullover und Chanel-Parfums. Die nahe Metrostation Kalvin Ter dagegen wirkt wie ein Auffanglager für alternde Flüchtlinge. Auf dem Betonboden offener Telefonzellen haben Obdachlose ihre Quartiere eingerichtet, mit Schaumstoffmatratze oder Pferdedecke und einer Flasche Fusel. Ungarn findet sich mitten auf der Brücke zum vereinten Europa, fünfzehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, ein knappes Jahr nach dem Beitritt zur Union. Krass klaffen nicht nur die Brüche zwischen den Klassen auf, umkämpft wird hier auch das ideologisch aufgeladene Feld der Erinnerungen. Wer über sie die Oberhand gewinnt, erbeutet die Deutungshoheit. Und damit die Macht in der Gegenwart.

Mária Schmidt zum Beispiel, Professorin für Geschichte an der Katholischen Universität von Budapest, hat ihr Stück Zepter fest in der Hand. Wenn die Mittvierzigerin, deren Name daran erinnert, dass in Budapest einmal deutsch wie ungarisch gesprochen wurde, von „ihrem Museum“ erzählt, dem „Terrorhaus“ auf Ungarns Ku’damm, der Prachtstraße Andrássy utca, wird ihr Ton rasch scharf. „Ich erwarte mehr Empathie von Westeuropa für unsere Leiden unter dem sozialistischen Regime.“ Ohne Scheu nannte Mária Schmidt vergangene Woche auf der Budapester Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung „Europa im Wandel. Literatur, Werte und Europäische Identität“, was ihr an der Gegenwart nicht passt. „Es vergiftet Europa, dass wir nur von Auschwitz reden“, ereifert sie sich.

Ungarn, betont sie, „hat zwei menschenfeindliche Diktaturen“ erlebt. Beide Male überwiegend als Opfer. Im „Terrorhaus“, eingeweiht vor zwei Jahren, ist Schmidts ungarische Version des Historikerstreits in dreidimensional aufgerüsteter Form zu besichtigen. Unter den Klängen langgezogener Moll-Akkorde voll Pathos tritt der Besucher ein, um im Atrium auf einen gigantischen Sowjetpanzer zu stoßen. An der Wand darüber bis hoch zum Dach finden sich die auf Postergröße expandierten Passfotos Hunderter Ungarn, die beim Aufstand gegen das sozialistische Regime 1956 ihr Leben verloren. Nur am Rande befasst sich das „Terrorhaus“ mit der Nazi-Kollaboration der ungarischen Faschisten, der Pfeilkreuzler, und den stalinistischen Hardlinern im Land. Wenn Erhard Schütz, Dekan der Berliner Humboldt-Universität, auf dieser Konferenz vor nationalistischer Emotionalisierung warnte, die in Diktaturen eine große Rolle spielt, bringt das Schmidts System nicht ins Wanken. Die durch Nüchternheit erschütternde Gedenkstätte Buchenwald findet sie „desakralisiert, postkulturell, entfremdet“.

Wer in Ungarn Geltung haben will, sollte derzeit möglichst katholisch und patriotisch daherkommen. Europa erscheint hier als die Chance schlechthin, die Landkarte der Erinnerung neu zu zeichnen – und erneut zu verzerren. Als György Konrád in seiner Rede zu den Menschenrechten als gemeinsamer Basis des heutigen Europa den Adenauer-Hörern davon erzählte, wie 1944 in Budapest seine jüdischen Mitschüler aus der Klasse „verschwanden“, als der Literaturhistoriker Wendelin Schmidt-Dengler (Wien) im furiosen Thomas-Bernhard-Stil eine Invektive gegen eine Nation wie Österreich losließ, das nach dem Zweiten Weltkrieg „überall dabei sein wollte, ohne dabei gewesen zu sein“, wirken der Ernst oder die Ironie solcher Einwürfe den neuen Patrioten gegenüber nahezu ketzerisch.

Guten Grund gibt es ja, vergessen und verdrängen zu wollen. Ungarns Holocaust, die Kollaboration mit dem Genozid des „Dritten Reiches“ blieb beispiellos in Europa. „Ungarn“, notiert Raul Hilberg, „war das einzige Land, in dem die Täter bereits zu Beginn ihrer Tat wussten, dass der Krieg verloren war.“ Mitte Mai 1944 begann, mit aktiver Hilfe fast der gesamten ungarischen Bürokratie und Logistik, die rapide Deportation einer halben Million ungarischer Juden nach Auschwitz-Birkenau, wo ein Drittel der Lagerinsassen ungarische Juden waren. Innerhalb von nur zwei Monaten war die „Aktion“ abgeschlossen, wie der deutsche Gesandte Veesenmeier in einem Telegramm vom 11. Juli 1944 ans Auswärtige Amt festhielt: „Konzentrierung und Abtransport Juden in Zone V einschließlich Aktion Vorstädte Budapest am 9. Juli planmäßig mit Ziffer 55.741 abgeschlossen. Gesamtziffer aus Zonen I bis V einschließlich Vorstadtaktion nunmehr 457.402.“ Als Faksimile findet sich das Telegramm im unterfinanzierten Museum der Hauptsynagoge, dicht am Geburtsort Theodor Herzls. Ihre Erhaltung verdankt die Mitte des 19. Jahrhunderts im orientalischen Stil gebaute Synagoge der Tatsache, dass die Gestapo sich auf deren Empore eingerichtet hatte, wo sie sich vor alliierten Bombern sicher wusste.

Erst nach Protesten zahlreicher Intellektueller gegen das einseitige „Terrorhaus“ entstand 2004 auch das Budapester „Holocaust Documentation Center“. Versteckt im Hinterhof der Pava-Synagoge liegt der moderne, an Libeskinds Architektur erinnernde Bau. Im Halbdunkel der zentralen Ausstellung sind allein die Exponate erleuchtet: eine Serie geschichtlich einmaliger Fotografien. Das von der überlebenden Ungarin Lili Jákob im Lager entdeckte „Auschwitz-Album“ ist eine Leihgabe der Gedenkstätte Yad Vashem, der Jákob, die 1964 bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen aussagte, das Album 1980 vermachte. SS-Männer dokumentierten am 26. Mai 1944 die Ankunft eines Bahntransportes aus Ungarn bis zur Rampe und dem Warten auf die Gaskammern. Der kalte Blick der Täter kann die Würde der Deportierten nicht vollends löschen. Lili Jákobs erkannte auf den Fotografien ihre Angehörigen, darunter die beiden Jüngsten, die Jungen Izrael und Zélig.

Kein Redner des „Documentation Center“ nahm an dieser Europa-Tagung teil. Hingegen war der gemeinsame Nenner vieler Redner auf der Adenauer-Tagung, was auch CDU-Veteran Bernhard Vogel betonte, die Ausgrenzung der Türkei aus einem, so Vogel, „christlich, jüdisch und atheistisch" geprägten Europa. Erfrischend erinnerte immerhin der in den USA lehrende Paul Michael Lützeler mit Goethe daran, dass Orient und Okzident nicht mehr zu trennen sind. Wenn auch, könnte man hinzufügen, im Rahmen der historischen Wahrheit.

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