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Frauenbilder. Anfang der neunziger Jahre fotografierte André Rival eine Modestrecke.

© Werner Mahler

Erinnerung an das DDR-Modemagazin "Sibylle": Abendrobe und Stacheldraht

1995 verschwand das DDR-Modemagazin „Sibylle“ vom Markt. Nun kehrt es mit einer Ausstellung und einem schönen Buch wieder zurück.

Anfang der neunziger Jahre lag sie plötzlich am Kiosk: die „Sibylle“, ein vergleichsweise schmales Heft, das anders aussah als die üblichen Frauenmagazine. Wenig Schrift auf dem Titel, kaum Werbung im Innern, dafür seitenweise Fotografien, auf denen die Models zum Statement wurden. Es ging um sie, nicht um die Mode. Oder besser: Es ging um Stolz, Selbstbewusstsein, um Charaktere. Was für eine revolutionäre Idee schien das von Bonn aus gesehen.

Dabei war die „Sibylle“ gar kein neues Projekt, sondern das Modemagazin der ehemaligen DDR. Fast vier Jahrzehnte lang, mit einer Auflage von 200 000 Exemplaren, die alle zwei Monate sofort vergriffen waren. Bis 1989, dann trat ein, was die Fotografin Ute Mahler aus der Rückschau beschreibt: „Die ,Sibylle‘ war über Nacht der Konkurrenz des freien Marktes ausgesetzt.“ Mit dem Fall der Mauer gewann das Magazin neue Leserinnen, verlor aber zugleich sein angestammtes Publikum. Ein paar zeitliche Umdrehungen später, in denen die Besitzer mehrfach wechselten und die letzte Redaktion das Heft in Eigenregie herausgab, wurde es eingestellt.

Die Redaktion wollte authentische Porträts und keine Modefotografie.

Wer die „Sibylle“ damals übersehen hat oder nicht länger lesen wollte, der kann nun rekapitulieren, was da 1995 verschwunden ist. Ein großartiges Magazin, das sich nicht als Werbeträger verstand, sondern das Leben reflektieren wollte. „Zeitschrift für Mode und Kultur“ stand im Untertitel, und man nahm diesen Auftrag ernst. Eine Ausstellung in der Rostocker Kunsthalle feiert nun kurzzeitig die Wiederauferstehung der „Sibylle“ und stellt die Bilder ihrer Fotografen bis 1989 aus: Arno Fischer, Sibylle Bergemann, Ute Mahler, Roger Melis, Sven Marquart, Ulrich Wüst. Schon diese Aufzählung verdeutlicht den Anspruch. Die Redaktion wollte authentische Porträts und keine Modefotografie. Wozu Kleider in Szene setzen, die nach 1961 gar nicht zu haben waren?

Man hätte kapitulieren können, doch das Magazin nutzte diese Leerstelle als Möglichkeitsraum. Gefüllt wurde er mit der ungewöhnlichen Kombination von Konfektionsware und eigenen Entwürfen, die zur Nachahmung inspirieren sollten. Dass es funktionierte, dokumentieren die Schneiderpuppen in der Kunsthalle, an denen hängt, was ehemalige Leserinnen der Ausstellung an selbst Geschneidertem zur Verfügung gestellt haben. An den Wänden gruppieren sich parallel dazu Arbeiten von 13 Fotografen, die weibliche – und vereinzelt auch männliche – Modelle am Strand, in der Stadt oder vor neutralen Hintergründen zeigen.

Das Cover der "Sibylle", Ausgabe 1/1964, stammt von Günter Rössler.
Das Cover der "Sibylle", Ausgabe 1/1964, stammt von Günter Rössler.

© Werner Mahler

Ästhetik ist ein großes Thema, aber nicht das einzige. Berlin im Wiederaufbau und die modernistische Architektur des Ostens nach 1960 ein anderes. Die Aufnahmen begleiten ab der ersten Ausgabe Reportagen über die Teenager im Land, berufstätige Frauen oder Fotografinnen. „Ozeane von mechanischer und elektrischer Energie werden hier produziert“, heißt es in einem Beitrag über die „Industriestadt Bitterfeld“, der die Models in Kniestrümpfen und Mänteln vor rauchende Schlote stellt. „Ein Filigran von Drähten und Schienen überzieht das Land und verliert sich in immer dünner werdenden Strängen in einem Schleier aus Rauch und Dunst“, steht daneben. Aber auch, dass die „neu zu errichtenden Wohnbereiche“ den Menschen in den Mittelpunkt stellten. Die „Sibylle“ war von Beginn an eben auch ein Modejournal in staatlichem Auftrag, das an der „Formulierung einer sozialistischen deutschen Nationalkultur“ mitwirken sollte. Was es vereinzelt tat – um dann wieder Abendroben vor dem Brandenburger Tor zu zeigen, an dem rechts wie links unübersehbar Stacheldraht verlief.

Nach dem Mauerfall kamen neue Fotografen wie Jim Rakete oder André Rival hinzu

Die Ausstellung in Rostock versammelt solche Texte in einem chronologischen Abriss der Ausgaben und mit Reproduktionen einzelner Hefte. Den Auftakt macht das Jahr der Gründung 1956 durch die Namensgeberin Sibylle Gerstner. Es folgt die prägende Zeit mit Dorothea Melis als Redakteurin bis hin zur letzten Ausgabe vor dem Mauerfall. Weiter reicht der begleitende Katalog, der weit mehr ist als bloß die gebundene Version der Ausstellung. Er führt bis in das schwierigste und letzte Jahr anhand zahlreicher Faksimiles, die die Geschichte der „Sibylle“ gleichsam zu einem stilistischen Parcours durch die Nachwendejahre verdichten. Neue Fotografen wie Jim Rakete oder André Rival kommen hinzu, die Gestaltung ändert sich ebenso wie die Mode.

Bloß der Anspruch bleibt. Und mit ihm die Erinnerung an eine wilde, unsichere Zeit. Das schweißt zusammen, bis heute. Zur Buchvorstellung – natürlich im Berliner Café „Sibylle“ auf der Karl-Marx-Allee – drängten sich vor einigen Tagen die Gäste. Auf dem Podium stand Andreas Krase, in den Neunzigern Leiter der Friedrichshainer Fotogalerie, und erzählte von jenen Untröstlichen, die gleich nach dem Ende der „Sibylle“ eine Ausstellung realisieren wollten. Weil das Journal doch etwas Besonderes war. Am Kopfnicken im Publikum erkennt man die ehemaligen Mitstreiter: Redakteure, Fotografen und die immer noch auffallend schicken Modelle. „Wir wurden in den Sechzigern viel fotografiert“, sagt die Stuhlnachbarin und zeigt auf sich und ihre Freundin. „Aber Margarethe, da hinten am Tisch, sie war die Wandelbarste und wurde immer wieder gefragt“. Wandelbar war auch die „Sibylle“ – ein bisschen jedenfalls, um sich nach 1989 zu behaupten. Alles andere hätte sie unkenntlich gemacht. Und auch das wäre ihr nicht bekommen.

Kunsthalle Rostock, Hamburger Str. 40, Rostock, bis 17.4.. Das Buch „Sibylle“ ist bei Hartmann books erschienen (39,90 Euro)

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