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Kultur: Erinnerung schmeckt süß

Bonbons für alle: eine Werkschau des US-Künstlers Felix Gonzalez-Torres im Hamburger Bahnhof

Das Glück besteht aus einem Feld aus Bonbons: glitzernd in goldenem Zellophanpapier verpackt, unüberschaubar viele, für jeden liegen sie bereit. Nie war der Hamburger Bahnhof verlockender, nie hat die Kunst mehr Begehrlichkeit geweckt. Auf exakt 544 Kilogramm beläuft sich das Idealgewicht dieses Eröffnungswerks von Felix Gonzalez-Torres, das den Besucher im Entree des Berliner Museums für Gegenwart empfängt. Inzwischen dürfte es einiges verloren haben, denn kaum jemand kann vorübergehen, ohne sich zu bedienen.

Ein Paukenschlag und doch eine berückend kleine Geste, denn jeder, der sich einen Bonbon nimmt, wird Teil eines Kunstwerks, das sich trotz seiner Simplizität ebenso wenig greifen wie begreifen lässt. Felix Gonzalez-Torres stellt die Koordinaten eines künstlerischen Produkts komplett auf den Kopf, indem er es einem permanenten Veränderungsprozess aussetzt und dadurch seine Wertigkeit in Frage stellt. Doch damit nicht genug: Neben spielerischen Anleihen bei Minimal Art und Konzeptkunst, die der Künstler mit seinen Bonbonfeldern und -schüttungen macht, unterfüttert er seine halb abstrakten, halb lebensnahen Werke auch noch mit politischen Botschaften. Immer steht neben der kindlichen Freude, die ein Bonbon ausstrahlt, zumal ein ganzer Haufen, das Gefühl von Verlust, Vergänglichkeit, ja eine Melancholie im Raum.

Vor genau zehn Jahren verstarb Gonzalez-Torres von Alter mit 38 in Miami an Aids. Der von Neuentdeckungen getriebene Kunstbetrieb hat ihn trotzdem nicht vergessen. Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, die ihn Ende der achtziger Jahre im Rahmen der Ausstellung „Vollbild Aids“ zum ersten Mal nach Berlin geholt hatte, richtet dem gebürtigen Kubaner posthum die erste Retrospektive ein – als Gastspiel im Hamburger Bahnhof. 2007 wird auf der Biennale di Venezia der amerikanische Pavillon ihm gewidmet sein, was überrascht, denn Gonzalez-Torres’ Werke sind bei aller Breitenwirksamkeit ungeheuer spröde. Das Publikum bedient sich zwar gern, goutiert den geschmacklichen Unterschied der Bonbons von Caramel bis Apfel, doch die Geschichte dahinter bleibt ihm meist verborgen. Sie wird auch im Hamburger Bahnhof nicht erzählt. Eine Ahnung bekommt nur, wer weiß, dass jener Bonbonberg dem Gewicht eines Mannes entspricht.

Die Madeleines von Gonzalez-Torres sind saure Drops, die er mit uns zu teilen sucht. Kurioserweise befindet sich ein Bonbonfeld neben Damien Hirsts Wandvitrine „The Void“ mit hunderten Dragees und Tabletten, die gerade umgekehrt den Schlaf, das Vergessen befördern sollen. Eine andere fruchtbare Nachbarschaft kommt im Hamburger Bahnhof mit Joseph Beuys zustande, den die Glühbirne als Metapher faszinierte und der mit der „Capri-Batterie“ eines seiner sprechendsten Werke schuf.

Gonzalez-Torres nun spielt darauf an, dass eine 60-Watt-Birne die gleiche Wärmemenge abstrahlt wie ein menschlicher Körper und beide sterben. Seine Lichterketten sind deshalb immer eine Erinnerung an vergangene Begegnungen; das in der Berliner Sammlung Hoffmann befindliche Exemplar, aufgehängt wie eine Festplatzbeleuchtung um vier Ecken, ist außerdem ergänzt um zwei portable CD-Player mit Walzermusik.

Subtil verknüpft Gonzalez-Torres privates Erleben mit einer politischen Ebene auch in seinen Textarbeiten, den „date pieces“, die sich schlicht aus einer Abfolge von Jahreszahlen und Begriffen bilden. Im Hamburger Bahnhof sind sie als umlaufendes Band unter der Decke zu lesen. Der Hinweis auf das erste gemeinsame Apartment, die Erfindung von Walkman und wasserdichter Wimperntusche, die Unruhen in Cape Town befinden sich in einer langen Reihe hintereinander. Das Lapidare und das Lebensbedrohliche stehen in direkter Nachbarschaft nebeneinander, wie es in dieser Brutalität wohl nur ein HIV-Patient verspüren kann.

Gonzalez-Torres spannt den Bogen jedoch noch weiter, indem er an die Anfänge der amerikanischen Staatsgründung geht. Das prädestiniert ihn zwar für die Repräsentation der USA auf der nächsten Biennale in Venedig, allerdings sind seine Bestandsaufnahmen von Patriotismus weit entfernt. Mit dem Rücken stellte er sich zu jenem berühmten New Yorker Reiterdenkmal von Teddy Roosevelt, vor dem ein Indianer und ein Schwarzer knieen, und fotografierte rundum nur die steinernen Schrifttafeln der Stützen der Gesellschaft: Soldat, Wissenschaftler, Rancher, Historiker. Deutlicher hätte er kaum zeigen können, wie sehr dies immer noch der allgemeinen Auffassung entspricht und doch fern der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, bis 9. Januar, Katalog 24 €.

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