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Kultur: Erinnerung, schweig

Zabou Breitmans „Claire – Se souvenir des belles choses“ erzählt von Alzheimer in einem jungen Leben

Vielleicht ist es ja wirklich so: Jeder von uns hat einen Fingerabdruck im Gesicht. Die Einbuchtung zwischen Oberlippe und Nase – die Stelle, die der Engel des Vergessens berührte, als er uns bei der Geburt ein leises „Schhhh“ zuflüsterte und alles in der Seele angelegte Wissen auslöschte. So muss jeder bei null anfangen. Um nach einer Reihe von Erfahrungen und Krisen schließlich zu seinem Ich, seiner Identität zu finden.

Claire ist um die dreißig und im Begriff, diese mühsam erworbene Identität wieder zu verlieren: Sie leidet an Gedächtnisschwund, die Diagnose lautet Alzheimer. Was das besondere Ich des Menschen Claire Poussin ausgemacht hat, erfahren wir nicht. Denn Zabou Breitman verzichtet in ihrem Regiedebüt darauf, die Grausamkeit des geistigen Verfalls durch die Darstellung eines zuvor womöglich herausragenden Lebens à la „Iris“ noch grausamer erscheinen zu lassen. „Claire – Se souvenir des belles choses“ nimmt das Leiden vielmehr so, wie es ist: zutiefst existenziell. Und streift eine um die andere Sichtweise auf das Vergessen, von denen jede höchstens subjektive Wahrheit und kurzfristigen Trost entfalten kann. Wie die Geschichte vom Engel des Vergessens.

Diese Parabel aus jüdischem Gedankengut bekommt Claire von Philippe erzählt, kurz vor ihrem ersten Kuss. Denn „Claire“ ist auch eine Liebesgeschichte, wiederum eine sehr existenzielle: Die Liebenden begegnen sich zu einem Zeitpunkt, an dem Claire gerade noch eine Geschichte hat, Philippe hingegen nicht mehr – er hat vorübergehend den Unfall vergessen, bei dem er Frau und Kind verlor. In einer Spezialklinik für Amnesiepatienten nähern sich die beiden vornehmlich über Blicke und Berührungen, die schließlich in rauschhaftem Sex im Regen münden: für Philippe ein beglückendes zweites „erstes Mal“. Wenn es ohne Gedächtnis auch keine Identität geben kann – Sinne und Sinnlichkeit bleiben.

Im Mikrokosmos der Klinik hat das Vergessen viele Gesichter: Auch die Gesunden merken sich nicht alles – ein Pfleger sucht ständig seine Schlüssel, der Chefarzt vergisst den Geburtstag der Geliebten – und die fragmentarischen Erinnerungen der Patienten führen zu Dialogen, die zuweilen belustigend, manchmal aber auch überraschend geistreich sind. Vergessen, das heißt auch: Schönes immer wieder neu entdecken. Der verschwommene Blick durch eine dünne Gardine, ein Ring aus Zigarettenrauch, der vorbeischwebt, nicht greifbar und doch sichtbar – kindliches Staunen spricht bald aus Claires Augen, unkontrolliertes Lachen ergreift Besitz von ihrem Mund, aus dem zunehmend verdrehte Sätze und komische Wortschöpfungen kommen.

Der schleichende Verlust von Sprache und Orientierung, die wachsende Verwirrung in Claires Blick verhindern auch die Idealisierung, die mit dem Rückzugs ins Kindliche verbunden sein könnte. Claire und Philippe eine gemeinsame Wohnung beziehen, scheint zwar die Kraft der Liebe zunächst umso stärker und verleitet zu neuer Hoffnung. Doch während Philippe mit Claires Hilfe langsam den Weg zur Erinnerung und somit ans Grab seiner Familie einschlägt, verengt sich Claires Welt auf das gerade noch Machbare, zerfasert in nicht mehr fassbare Versatzstücke.

Regisseurin Zabou Breitman, selbst Schauspielerin, hätte ihre Hauptdarsteller Bernard Campan und Isabelle Carré kaum besser in Szene setzen können. Poesie statt Kitsch, märchenhafte Überhöhung statt plakativer Betroffenheitsästhetik – auch das Gefühl für Nuancen erhält sie sich bis zum Schluss. Der gestattet allerdings keine Vielzahl von Sichtweisen, sondern nur noch eine mögliche Reaktion: abgrundtiefe Traurigkeit.

Filmbühne am Steinplatz, fsk (beides OmU)

Brigitte Böttcher

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