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Simon Rattle dirigiert an diesem Sonntag in der Waldbühne sein letztes Konzert als Chef der Berliner Philharmoniker

© dpa/Uli Deck

Erinnerungen an die Ära Simon Rattle: Von Musik und anderen lebenswichtigen Dingen

Der Tagesspiegel hat Künstler und Klassikliebhaber gebeten, von ihren schönsten Momenten mit Simon Rattle zu berichten. Das Ergebnis ist so vielfältig wie der scheidende Philharmoniker-Chefdirigent.

PAMELA ROSENBERG, Intendantin der Philharmoniker von 2006 bis 2010
Nach einem Konzert der Berliner Philharmoniker in der Kölner Philharmonie lud die Dombaumeisterin Simon, ein paar weitere Gäste und mich zu einer nächtlichen Führung durch den Kölner Dom ein. Es war ein aufregendes Erlebnis, dieses architektonische Wunderwerk zu einer solch späten Stunde zu erkunden.
ls krönender Abschluss erwartete uns der Aufstieg zur Turmspitze. Zwischen dieser und uns lagen allerdings auch 157 Höhenmeter und mehrere enge Wendeltreppen mit 533 Stufen.

Nach rund zwei Dritteln des Aufstiegs war ich vor allem damit beschäftigt, nach Luft zu ringen. Da vernahm ich hinter mir Simons Stimme. Woher er seinen Atem dafür nahm, ist mir ein Rätsel, jedenfalls begann er ganz sanft ein Lied von Robert Schumann zu singen: „Im Rhein, im heiligen Strome, / Da spiegelt sich in den Well‘n, / Mit seinem großen Dome, / Das große, heilige Cöln.“

Ich drehte mich lächelnd zu Simon um, er lächelte zurück und sagte: „I thought Schumann might enjoy joining us on our midnight expedition.“ Ich bin mir sicher, dass Schumann Simons Aufmerksamkeit sehr zu schätzen gewusst hat.

Die damalige Intendantin Pamela Rosenberg 2010, beim Protest gegen Abbau von Schulmusik am Rande eines Lunchkonzerts im Foyer der Philharmonie in Berlin.
Die damalige Intendantin Pamela Rosenberg 2010, beim Protest gegen Abbau von Schulmusik am Rande eines Lunchkonzerts im Foyer der Philharmonie in Berlin.

© Mike Wolff

MAX RAABE, studierte Bariton und Palastorchester-Sänger

Vor einigen Jahren besuchte Simon Rattle eines unserer Konzerte und saß anschließend mit uns in einer Kneipe. Als er auf die Artikulation bei den Blechbläsern zu sprechen kam, fand er – zurückhaltend ausgedrückt – sehr freundliche Worte für meine Kollegen. Ich hab die Jungs seitdem nie wieder mit solch’ selig leuchtenden Augen erlebt wie an jenem Abend.

Wie sehr Simon Rattle die Stilistik der 20er/30er Jahre verinnerlicht hat, konnte ich in diesem Frühjahr bei seinem letzten „Late Night“-Konzert in der Philharmonie erleben. Er hatte mich für drei Stücke als Sänger dazu gebeten. Werke aus dem Repertoire von Paul Whiteman standen auf dem Programm, und es war großartig, den Meister bei den Proben zu beobachten.

Dass Simon Rattle einen Wohnsitz in Berlin behält, freut mich sehr. Aber mir ist klar, dass ich ihn in Zukunft noch seltener zu Gesicht bekommen werde, als in den Jahren zuvor.

Max Raabe, hier auf einem Foto aus dem Jahr 2015.
Max Raabe, hier auf einem Foto aus dem Jahr 2015.

© AFP/Ronny Hartmann

ULRICH KNÖRZER, philharmonischer Bratschist seit 1990
In meiner Jugend konnte ich zunächst nicht verstehen, warum alle so großes Aufhebens um den Namen Mozart machten. Auf den Aufnahmen, die ich kannte, wurde seine Musik für mein Empfinden zwar schön, aber auch glatt und letztlich etwas langweilig gespielt. Erst Jahre später habe ich meine Liebe zu Mozart entdeckt, dann brannte sie dafür umso stärker!

Vielleicht als Reaktion auf jenen älteren Mozart-Stil haben Interpreten danach versucht, in seiner Musik die düsteren, ja sogar ruppigen Aspekte herauszustellen. Aber den unendlichen Reichtum seiner Sinfonien habe ich erst unter Simon Rattle erfahren. Deswegen werden mir die Konzerte im Jahr 2013 mit den großartigen drei letzten Mozart-Sinfonien unvergesslich bleiben. Simon gelang es, alles zu vereinen: Schönheit und anpackend direktes Spiel, Eleganz und Tiefe, Seriosität und zugleich Humor. Danke, Simon!

MARIANNE REICHARDT, Abonnentin seit 1990, engagiert im Philharmoniker-Ehrenamtsprogramm seit der Gründung 2007

m August 2002 erschien unter dem Titel „Simon Rattle - Abenteuer der Musik“ ein Buch, gerade rechtzeitig zum Beginn der Spielzeit 2002/2003, der ersten der Berliner Philharmoniker unter ihrem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Am 14. September 2003 gab es zur Eröffnung der zweiten Spielzeit für das Publikum einen „Tag der offenen Tür“, bei dem ich mir fest vornahm, eine Widmung für mein Buch zu erhaschen. Es sollte abends eine öffentliche Generalprobe stattfinden. Ich reservierte mir rechtzeitig einen Platz in der ersten Reihe links in Block A, von wo aus ich die Tür sehen konnte, durch die die Musiker und der Maestro kommen und gehen mussten, sehen konnte.

Bei der dritten Verbeugung als Dank vor dem Publikum wollte ich dann um meine Widmung bitten. Es gab aber nur eine Verbeugung, denn die Leute drängten eilig aus dem Saal, um wahrscheinlich noch mehr schöne Dinge im Haus zu erleben. Da saß ich nun mit Buch und Stift und kein Simon Rattle in Sicht. Ich nahm allen Mut zusammen und ging zu der bewussten Tür, von der ich damals nicht wusste, was mich dahinter erwartet. Beim Öffnen hielten mich zwei Aufsichtspersonen zurück, und ich sagte bescheiden meinen Wunsch. In der Nähe sah ich den Maestro und posaunte (sicher viel zu laut) meine Begeisterung für ihn hinaus: „You are the greatest man of music for me.“

Mit einem freundlichen Lächeln kam er auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Wonderful.“ Nun steht in meinem Buch „Alles Gute! Simon Rattle“. Nach 16 Jahren möchte ich diesen Wunsch zurückgeben. Alles Gute, Simon Rattle, und „Thank you for the music from Barock to Jazz“.

Rhythm is it! Simon Rattle wird von den Jugendlichen des Tanzprojekts in luftige Höhen befördert.
Rhythm is it! Simon Rattle wird von den Jugendlichen des Tanzprojekts in luftige Höhen befördert.

© Monika Ritterhaus/Berliner Philharmoniker

WOLFGANG BECKER, Filmemacher („Good Bye, Lenin!“) und größter Klassikfan unter den deutschen Regisseuren
Meinen ersten schönsten Rattle-Moment erlebte ich 2010 im Konzert mit Mahlers Auferstehungssymphonie. Ich nenne sie seitdem immer Erweckungssymphonie. Dieser bruchlose Übergang von Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ zu Mahlers Zweiter, das Fortissimo attacca nach dem „Shem’a Yisroel“, das steckt mir immer noch in den Knochen. Mein zweiter schönster Rattle-Moment war das 50. Bühnenjubiläum von Daniel Barenboim im Juni 2014. 1964 hatte Barenboim bei den Philharmonikern mit Bartóks 1. Klavierkonzert debütiert. Jetzt saß er wieder am Flügel, Rattle dirigierte.

Das Konzert begann mit Charles Ives’ „The Unanswered Question“, ein epochales Stück, das ich über meinen X-Filme-Freund Tom Tykwer kennengelernt habe, der Ives so passend in „Lola rennt“ verwendet hatte. Die anschließenden „Metamorphosen“ von Richard Strauss passten irre gut dazu, trotz des großen Abstands der Entstehungszeit. Es folgte Brahms’ d-MollKlavierkonzert. Zwei große Dirigenten, zwei Musikgiganten in einer Stadt, da denkt man schnell, die sind sich nicht grün, da herrscht Konkurrenz. Ich saß hinter dem Orchester auf den Chor-Bänken. Aus der Perspektive konnte ich Barenboim fantastisch gut auf die Finger schauen und vor allem den Blickwechsel zwischen den beiden beobachten. Sie sind nicht nur musikalisch Freunde, sondern wirkliche Herzensfreunde, so sah es jedenfalls aus. Beim tosenden Applaus schob Rattle seinen Buddy Barenboim immer nach vorne, nannte ihn ein Mitglied der Philharmoniker-Familie, ohne jede Affektiertheit. Das ging mir nahe. Barenboim gab dann noch zwei Zugaben, nichts Virtuoses, sondern etwas Schlichtes von Chopin. Rattle schlich sich aufs Podium, setzte sich auf die Stufen und lauschte seinem Kollegen. Ich sah ihn im Profil, wie er Barenboims Spiel auf sich wirken ließ, und dachte, wow, das gefällt mir, in diesem Klassiktempel geht es zu wie unter Jazzmusikern.

MARTIN HOFFMANN, Intendant der Philharmoniker von 2010 bis 2017

Ich habe so viele wundervolle und bewegende Momente mit Sir Simon erlebt, dass es ungerecht wäre nur einen davon zu benennen. Das Wichtigste für mich war, dass wir so gerne und immer mit gegenseitigem Vertrauen zusammengearbeitet haben. Das war einfach wunderbar.

IRENE BINDEL, Philharmonik,er-Verehrerin seit 1956, seit 2007 aktiv bei den Ehrenamtlichen

Es war Ende 1987, als Simon Rattle sein erstes Konzert in Berlin mit den Berliner Philharmonikern dirigierte. Danach kam er immer wieder zu den Berliner Philharmonikern, lange bevor er Chef dieses wunderbaren Orchesters wurde. So oft ich konnte, besuchte ich seine Konzerte. Dass ich eines Tages nun auch noch als Ehrenamtliche für dieses Orchester tätig sein durfte und diese für mich damals heiligen Hallen ein Arbeitsplatz wurden, hätte ich mir nie träumen lassen.

Letztes Jahr feierten wir ehrenamtlichen „Aktiven“ unser zehnjähriges Bestehen. Simon Rattle hat es sich nicht nehmen lassen, uns auch zu gratulieren. Ich stand direkt neben ihm und erzählte ihm, dass ich ihn schon erlebt hätte, da war sein Wuschelkopf noch dunkelhaarig. Lachend strich er sich über das Haar und sagte: „Jetzt ist es nur noch Asche.“ Worauf ich ihm natürlich zustimmen musste: „Wir haben beide Asche auf dem Kopf.“ Es sind ja schließlich viele Jahre vergangen. Das ist Simon Rattle, locker und zu Scherzen aufgelegt.

GABOR TARKÖVI, philharmonischer Solo-Trompeter seit 2004
Simons musikalische Vielseitigkeit von Barock bis zur Moderne hat uns unglaublich fit gehalten. Eines der schönsten Projekte für mich persönlich war der gemeinsame Auftritt mit Wynton Marsalis und dem „Jazz at Lincoln Center Orchestra“ 2010. So etwas wagen nicht viele Dirigenten, eine Uraufführung für die Philharmoniker und eine Bigband, bei der überhaupt nicht klar ist, wie das wird. Zudem kamen die Noten der „Swing Symphony“ erst in allerletzter Sekunde an. Simon aber konnte uns gut erklären, was für ein Feeling man für diese Art von Musik braucht. Und die Musiker aus New York waren wirklich fantastisch.

Weil Simon in den Proben fast immer nur Englisch gesprochen hat, haben sich übrigens auch meine Kenntnisse in dieser Sprache über die Jahre deutlich verbessert.

Die Locken sind sein Markenzeichen: Simon Rattle
Die Locken sind sein Markenzeichen: Simon Rattle

© dpa

NICHOLAS KENYON, Rattle-Biograf und Leiter des Londoner Barbican Centre
Weil Simon Rattle immer seinen eigenen Weg gehen wollte, wäre sein Berlin-Debüt 1987 fast geplatzt: Er wollte nämlich die Aufführungsfassung von Mahlers unvollendet gebliebener Zehnter dirigieren. Doch das war ein Werk, das die Berliner damals (noch) gar nicht schätzten. Also wurde es Mahlers Sechste, und es begann eine Zusammenarbeit mit diesem großartigen Orchester, dessen Repertoire Rattle erweiterte, das er für Enducationarbeit begeisterte, für das er viele neue Werke in Auftrag gab und das er auf unzählige Tourneen in aller Welt führte.

Im November 2017 war ich mit Rattle und den Philharmonikern in Japan, um die Konzertsäle in Kawasaki und Tokio zu erkunden. Dabei war ich einmal mehr erstaunt, mit welch’ unendlicher Geduld und konstant guter Laune Simon abwartete, bis alle Probleme beim Bühnenaufbau, bei der Sitzordnung und der Reiseplanung gelöst waren, um sich dann dem zu widmen, worauf es ankommt: die inspirierte Aufführung am Abend.

Wir in Großbritannien sind sehr glücklich, dass sich der nächste Abschnitt von Simons musikalischem Leben in London abspielen wird. Wobei seine Arbeit in Berlin ja weitergeht, auf dem sinfonischen wie musiktheatralen Gebiet. Die Hammerschläge von Mahlers Sechster sind einmal mehr erklungen – aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

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