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Kultur: Erinnerungen an die Transitwege nach West-Berlin

Beim Blick auf eine gar nicht so alte Landkarte fährt einem manchmal der Schrecken in die Glieder: Wie weit weg lag doch West-Berlin von der Bundesrepublik entfernt, eine kleine Insel, die man erst nach langer Fahrt durchs "feindliche Meer des Kommunismus" erreichte. Aber graut einem davor nicht erst heute?

Beim Blick auf eine gar nicht so alte Landkarte fährt einem manchmal der Schrecken in die Glieder: Wie weit weg lag doch West-Berlin von der Bundesrepublik entfernt, eine kleine Insel, die man erst nach langer Fahrt durchs "feindliche Meer des Kommunismus" erreichte. Aber graut einem davor nicht erst heute? Auch an diese Absurdität der Teilung hatte man sich doch gewöhnt.

So ist das neue Werk über den Transitverkehr auch für "eingeborene" oder "gelernte" West-Berliner ein wichtiges Geschichtsbuch: zur Erinnerung an die eigene, nach zehn Jahren fast vergessene Situation; zur Information für die Jüngeren, die die von Unsicherheit und Schikanen geprägte Lage des Berlin-Verkehrs vor dem 1971 geschlossenen Transitabkommen nicht mehr miterlebt haben; für Ostdeutsche, die sozusagen Zaungäste dieses Verkehrs waren, und erst recht für die Nachgeborenen - denn wie grotesk die Teilung und ihre Folgen waren, dürfte einem schon bald keiner mehr glauben.

Mit angemessener Akribie beleuchten Friedrich Christian Delius und Peter Joachim Lapp dieses Thema, das in einem Buch festgehalten zu werden längst überfällig war. Der Schriftsteller Delius, 1963 mit 20 Jahren nach Berlin gezogen, ruft in einem schönen Einleitungsessay seine Erinnerungen an nach eigener Einschätzung rund 360 Transitreisen auf, kommentiert Modalitäten und Zeitumstände, Eindrücke und Empfindungen der Fahrten. Besonders bizarr war dabei der Weg über die alte F 5 nach Hamburg, wo man bis zur Eröffnung der Autobahn Anfang der achtziger Jahre über eine Landstraße fuhr, durch Dörfer und Kleinstädte und den DDR-Alltag, der zugleich unerreichbar fern war, da man ja nicht anhalten und "Kontakt aufnehmen" durfte. Im Nachhinein fragt man sich, ob sich die SED-Machthaber nicht mit der Abwicklung des Transitverkehrs einer großen Chance begeben haben: Statt ihren Spießerstaat von seiner Schokoladenseite zu zeigen, versuchten sie, den Reisenden erst den Weg in die Inselstadt so sehr wie möglich zu verleiden, und auch nach dem Abkommen war das Auftreten der "Organe" weiterhin von eisiger Distanziertheit, Abzockmentalität und Neid geprägt (wer ein teureres Auto fuhr oder sich als "Kapitalist" zu erkennen gab, hatte noch höhere Bußgelder zu gewärtigen). "So gingen die Transitreisenden durch eine Schule der Diktatur", kommentiert Delius die Auswirkungen ganz richtig. "Und niemand soll sagen, das sei keine gute Schule gewesen: So etwas wie die DDR wollte keiner, auch nicht die linken Berliner Studenten (. . .) Das westliche Freiheitsgefühl, was wäre es gewesen ohne die Transiterfahrungen?"

Das reich bebilderte Buch, das in raren Aufnahmen auch Intershops, Raststättenrestaurants oder die Visaerteilung im Zug zeigt, versammelt persönliche Erinnerungen von verschiedenster Seite: von einem Fuhrunternehmer, von Grenzern beider Seiten, einer Frau, die via Transitverkehr zu fliehen versucht hatte oder einer Ausgebürgerten, die nach gelegentlichen illegalen Ausflügen in die alte DDR-Heimat eine Transitsperre erhielt. Peter Joachim Lapp, Journalist, Politologe und selbst einst Opfer der SED-Justiz, beleuchtet dann auf informative und spannende Weise die politischen und rechtlichen Dimensionen des Transitverkehrs, von der unsicheren Lage vor dem Abkommen über die Überwachungspraktiken der Stasi bis hin zur Arbeit der Transitkommission.

Dabei wird auch deutlich, welch dringendes Interesse die DDR eigentlich am Transitverkehr hatte: Gebühren, Benzinverkauf und Intershophandel spülten Devisen in die immer mehr kränkelnde Staatswirtschaft. So kam zu dem Souveränitätsverlust, den der Transit dem stets so auf seine internationale Anerkennung bedachten SED-Staat gebracht hatte, auch noch die wachsende ökonomische Abhängigkeit vom "Klassenfeind" hinzu. Von der Demütigung der eigenen Untertanen, die die direkte Konfrontation mit den moderneren und schnelleren Wagen aus dem laut Marxismus doch unterlegenen und rückständigen Westen bedeutet haben mag, ganz zu schweigen. Auch in dieser Hinsicht bewährte sich West-Berlin als der berühmte "Stachel im Fleisch der DDR".Friedrich Christian Delius / Peter Joachim Lapp: Transit Westberlin. Erlebnisse im Zwischenraum. Ch. Links Verlag, Berlin 1999. 190 Seiten. 68 DM.

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Jan Gympel

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