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Erlebte Geschichte: Rückblick ohne Ostalgie

Christine Brinck schreibt ein Buch über ihre Jugend in der DDR. Die Journalistin wundert sich über die "neue Nostalgie nach dem Wir-Gefühl der DDR".

Vor 50 Jahren wurde um die Deutsche Demokratische Republik eine Mauer gebaut, weil immer mehr Menschen das Land verließen. Eine von ihnen war Christine Brinck, die als Fünfzehnjährige mit ihrer Familie aus Schwerin über Marienfelde nach Hamburg geflohen ist. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und wundert sich über die „neue Nostalgie nach dem Wir-Gefühl der DDR“. Ihre Erinnerungen an das Land in „vormaurischer Zeit“, an ihre Jugend zwischen Kriegsende und Mauerbau, geben das nicht her. Sie sind frei von jeder Nostalgie für den sozialistischen Alltag der Aufmärsche, HO-Läden und Spitzel, sie sind vielmehr geprägt von dem Versuch, diesem Alltag ein bürgerliches Gegengewicht zu verleihen.

In dem Schülerpensionat, das ihre verwitwete Mutter in der großen Schweriner Altbauwohnung eröffnete, herrschte eine regimekritische, von Klavier, Hockey und lässigem Christentum geprägte Atmosphäre. „Wir konnten lügen und uns verstellen, den Lehrern nach dem Mund reden und doch eine unschuldige Frage stellen, in die wir unser Wissen aus dem Westradio unauffällig einbauten.“ Gute Freundschaften, schreibt Brinck, hatte sie außerhalb dieses vertrauten Umfeldes nur wenige, und nach und nach wurde das durch Fluchten vieler Bekannter in den Westen immer kleiner. Als ihre Schwester schließlich nur zum Abitur zugelassen werden soll, wenn sie verspräche, sich danach nicht an einer Uni zu bewerben, wird der sozialistische Alltag zu übermächtig: die Mutter schloss das Haus, „in dem sie zwanzig Jahre gelebt, geliebt, geweint, Kinder großgezogen und gearbeitet hat, hinter sich ab und blickte sich nicht mehr um“. Die Familie geht, nicht zusammen und heimlich, in den Westen. „Mit der Flucht war meine DDR-Kindheit zwei Jahre vor dem Mauerbau beendet. Natürlich waren damit die Prägungen nicht verschwunden, sei es das Lügen und Tricksen oder das Misstrauen gegenüber fast allen. Kummer über den Verlust meiner ersten Kindheit habe ich nicht einen einzigen Tag empfunden. Heimweh nach der DDR und dem straff organisierten Leben zwischen wehenden Fahnen, Spruchbändern und Ungerechtigkeiten kannte ich nicht.“

Das Verlassen der DDR ist für Brinck Flucht und Vertreibung zugleich. Ihre eigene eindrucksvolle Erfahrung und auch die Interviews, die sie für den zweiten Teil des Buches mit anderen DDR-Flüchtlingen geführt hat, machen deutlich, wie sehr der „von der DDR so beklagte Wegzug der Gebildeten hausgemacht“ war. Leicht verlässt niemand seine Heimat. Doch der Unzufriedenheit, Angst und Entfremdung von Millionen Menschen hatte die DDR-Führung nichts entgegenzusetzen – außer einer Mauer.
– Christine Brinck: Eine Kindheit in vormaurischer Zeit. Berlin Verlag, Berlin 2010. 173 Seiten, 19,90 Euro.

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