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Kultur: Ermüdungsbrüche

MORITZ RINKE über den schleichenden Terror auf Umwegen Lange habe ich dieser Tage auf die Fotografien der verbogenen Eisenstangen geschaut, die früher einmal der Radreifen am Zug „Wilhelm Conrad Röntgen“ waren, der dann in Eschede entgleiste und nun noch einmal im Saal des Landgerichts Hannover in Form einiger Eisenstangen auf dem ParkettBoden liegt. Um ihn herum Richter, Anwälte, Sachverständige.

MORITZ RINKE über den schleichenden Terror auf Umwegen

Lange habe ich dieser Tage auf die Fotografien der verbogenen Eisenstangen geschaut, die früher einmal der Radreifen am Zug „Wilhelm Conrad Röntgen“ waren, der dann in Eschede entgleiste und nun noch einmal im Saal des Landgerichts Hannover in Form einiger Eisenstangen auf dem ParkettBoden liegt. Um ihn herum Richter, Anwälte, Sachverständige. Die Vorträge, die im Gerichtssaal gehalten werden, lauten: „Analyse und Bewertung der Bruchentwicklung von Radreifen“; ein anderer Gutachter referiert über „Ermüdungsbrüche im Erscheinungsbild der Rad-Risse“; der nächste doziert über „Reifenspannungen an Radreifen bei verschiedenen Lastfällen und Geschwindigkeiten“.

Ehrlich gesagt, man möchte es eigentlich gar nicht so genau wissen, denn zu welchen Erkenntnissen kämen wir wohl, wenn wir das mal auf alle Einzelteile unserer Züge ausweiteten? Und nach der Bruchentwicklung aller Einzelteile, was käme dann, würden wir uns zum Beispiel mit der „Entwicklung und Bewertung von verschiedenen hessischen Tiefkühlsahnetorten“ befassen? Einer Pocken-Impfung, angeregt durch das Gesundheitsministerium, liegen Gutachten der Geheimdienste zugrunde beziehungsweise klare, verbrecherische Verhaltensweisen der Al-Qaida oder anderer Vereinigungen. Wie schütze ich mich aber vor Acrylamid in Frittierwaren oder „Verschraubungen von Befestigungselementen an Ch-53-Hubschraubern“ beziehungsweise vor den Kühltechniken von hessischem Feingebäck oder jener Bruchentwicklung in Lastfällen?

Das Thema Pocken-Impfung löst dieser Tage eine absonderliche Sympathie mit den möglichen verbrecherischen Urhebern solcher Schutzmaßnahmen aus: Kann man sich denn gegen jenen grauenhaften Terror gar besser impfen lassen als gegen das restliche konsumistische Leben? Würde die Al-Qaida mit hochgiftigen Spritzmitteln im Ökogetreide operieren? Nord-Korea fährt atomare Brennstäbe durch Pjöngjang, das sind klare Ansagen, da kann man dann weltpolitische Maßnahmen treffen, aber warum muss ich das Vertrauen in den Restverstand von George Bush und Saddam Hussein entwickeln und dann auch noch in mein Öko-Frühstücksei? Das Ei würde ich gerne abhaken, mir reichen Bush und Pjöngjang!

Das Mädchen in Hessen sei angeblich nach dem Verzehr der Torte an Erbrochenem erstickt, aber wieso haben dann die Menschen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die auch diese Tiefkühl-Torten aßen, ebenfalls erbrochen? Ich bin kein Experte für mögliche Brechreize mit Todesfolgen nach tiefgefrorenem Feingebäck, aber irgendwas stimmt hier nicht. Thilo Bode, der Geschäftsführer der Verbraucherorganisation „foodwatch“, hat im Tagesspiegel geschrieben, dass es letztes Jahr die schlimmsten Lebensmittelskandale gab, aber die Strafverfolgungsbehörden alles andere als hart durchgreifen würden. Beispiel BSE. Man mag ja schon gar nicht mehr diesen müden Klassiker erwähnen, aber wo sind denn jetzt bitte die europaweiten Prozesse? Es ist schön, gegen Pocken und den Radikal-Fundamentalismus geimpft zu sein, aber was nützt es, wenn ich dann ein Öko-Ei esse?

Je länger man auf die Bilder der verbogenen Eisenstangen im Gerichtssaal von Hannover starrt, umso stärker werden die eigenen Ermüdungsbrüche, umso tiefer das Misstrauen gegen alles: gegen Triebwerke, Rinder, Handies, Öko-Eier, Mikrowellen, Torten, Öltanker, Wandfarben, Hubschrauber, Frittierwaren; gegen die Wirtschaft, gegen die Gesetze, gegen die Weltgesundheitsorganisation, gegen die ganze Regierung, gegen diesen schleichenden Terrorismus auf Umwegen, der in Supermärkten, Tele-Shops, Bioläden, Baumärkten oder Bundesbahnschaltern lächelnd in unser Leben tappt. Wenn man schon unnatürlich sterben soll, dann wenigstens für eine große politische Idee, nicht aber für das Agro-Business oder die Tele-Kommunikation und deren Lobbies. Und eine Gesellschaft, die nicht mal Futtermittel-Verbrechern Einhalt gebieten kann, wie geht die dann eigentlich in der Höhenluft des irgendwann einmal kommerziellen Klonens vor? Die Firma „Clonaid“, die angeblich 20 Menschen geklont haben soll, steht am kommenden Mittwoch vor einem amerikanischen Gericht. Ich freue mich schon auf die Gutachten.

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