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Kultur: Erregt, chaotisch und dramatisch - das Parteitagsprotokoll

Die Zeit des Umbruchs in der DDR war voller Verwerfungen und Überraschungen. Am 3.

Die Zeit des Umbruchs in der DDR war voller Verwerfungen und Überraschungen. Am 3. Dezember 1989 traten das Politbüro und das Zentralkomitee der SED zurück. Wer hätte diesen historisch einmaligen Vorgang vorauszusagen gewagt? Ein zeitweiliger Arbeitsausschuss nahm die Zügel in die Hand und berief, den Forderungen der Parteibasis folgend, kurzfristig einen Außerordentlichen Parteitag der SED ein - den letzten. Er sollte zum ersten Parteitag der Partei des Demokratischen Sozialismus werden, die nur vorläufig gut sechs Wochen noch den Doppelnamen SED-PDS führte.

Die Beratungen und Diskussionen dieses Parteitages, der nun nicht mehr protzig im "Palast der Republik", sondern bescheiden in der Dynamo-Sporthalle Weißensee stattfand, verteilten sich auf zwei Wochenenden, auf den 8./9. und den 16./17. Dezember 1989. Zehn Sitzungen fanden statt, darunter mehrere in der Nacht unter Ausschluss der Medien, und sie verliefen in erregter, dramatischer, teils chaotischer Atmosphäre.

Zwölfeinhalb Minuten Hans Modrow

Zehn Jahre danach liegt das Protokoll sämtlicher Reden und Diskussionsbeiträge vor, ungekürzt selbstverständlich, auch die legendäre Geheimrede Hans Modrows aus der Nachtsitzung vom 8. zum 9. Dezember ist im Buch enthalten. Sie dauerte nur zwölfeinhalb Minuten, legte aber schonungslos die innere Verfassung der Partei bloß.

Die Herausgeber des Parteitagsprotokolls, die Historiker Detlef Nakath, Gerd-Rüdiger Stephan und der Leiter des PDS-Archivs Lothar Hornbogen, sind ausgewiesene Kenner der Materie, ihre Edition haben sie im Einvernehmen mit dem Parteivorstand der PDS akribisch zusammengestellt. Alle Texte wurden nach dem Stenogramm mit Tonbandmitschnitten verglichen und verifiziert. Eine Einleitung, kritisch-wohlwollend formuliert, macht die historische Situation, in welcher der Parteitag zusammentrat, noch einmal gegenwärtig.

Manche der Reden von damals sind lesenswert, weil sie das Desaster der SED deutlich machen und den rasanten Zusammenbruch der Partei, die einst immer Recht haben wollte, aufzeigen. Insoweit liefert das Protokoll ein Stück Geschichte gegen politische Nostalgie. Immerhin hatte es seine Gründe, wenn innerhalb eines Jahres der Mitgliederbestand von 2,3 Millionen 1989 in der SED auf 200 000 in der PDS zurückfiel.

Auch Ansätze einer Abrechnung mit dem stalinistischen System wurden klar sichtbar, mit bitteren Wahrheiten und unbeschadet der Illusion, die PDS könnte den Zusammenbruch des DDR-Sozialismus und die Wiedervereinigung Deutschlands aufhalten. Tatsächlich sprach die SED-PDS in ihrem vorläufigen Statut, das bereits bei seiner Verabschiedung anachronistisch war, noch immer vom "Volk der DDR", dem die neue Partei als Ziel einen "neuen menschlichen, demokratischen Sozialismus in der DDR" wies.

Dem Protokoll ist eine CD beigegeben, die teils vollständig, teils auszugsweise Mitschnitte der Reden von Herbert Kroker, Hans Modrow, Gregor Gysi, Rudolf Bahro, Michael Schumann und Lothar Bisky enthält, rund 75 Minuten Originalton, eine akustische Illustration der gedruckten Texte, die durchaus Sinn macht. Denn sie vermittelt etwas von der aufgeheizten Stimmung, die damals Stil und Verlauf des Parteitages charakterisiert hat.Lothar Hornbogen, Detlef Nakath, Gerd-Rüdiger Stephan: Außerordentlicher Parteitag der SED / PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin. Mit einer CD ausgewählter Original-Mitschnitte. Karl Dietz Verlag, Berlin 1999. 463 S. 39,80 DM.

Karl Wilhelm Fricke

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