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Kultur: Erschlaffte Klimmzüge

Weder Hölle noch Verzauberung: „Familienrat“ von Nico and the Navigators in den Sophiensälen

Mit einer Silbersandalette vom Schuhregal schleicht sich der dünne Mann anfangs davon, am Ende findet er sich in einem Regen aus Brötchenkrümeln wieder: Bilder, die Märchen zitieren und sie surreal verfremden, tauchen immer wieder auf im „Familienrat“, der fünften Produktion von Nico and the Navigators. Die Gruppe, 1998 bei einem Workshop am Bauhaus Dessau gegründet, zelebriert gewöhnlich den kindlichen-naiven Blick auf eine Welt, die vor immer neue Rätsel stellt. Ihr Theater leuchtet in Brausepulver-Farben, Regisseurin Nicola Hümpel und Bühnenbildner Oliver Proske malen Melancholien in Maigrün – oder diesmal eine himbeerrote Traurigkeit.

Die sieben Darsteller schleichen im „Famileinrat“ umeinander, immer auf der Hut, nicht gegen eine unausgesprochene Spielregel zu verstoßen. Ein Harmonie-Spiel in seinen eigenen Zwängen. Oliver Proske hat ein hölzernes Gehäuse für diese schreckliche nette Familie entworfen, das sich auf wundersame Weise verwandeln kann. Die Akteure balancieren auf Stegen und Treppchen – mit traumwandlerischer Langsamkeit tragen sie die Requisiten des familiären Zusammenlebens über die Bühne, gelbe Tässchen aus dem Fruchtzwergenland. Oder nutzen das zerlegbare Mobiliar zu Turnübungen.

Julius Weiland als Familienvater führt den Riss zwischen Wollen und Sollen vor als körperliche Verklemmung. Er träumt von einer Laufbahn als Leistungssportler, seine Ambitionen kann er nur in Klimmzügen in der Umkleidekabine ausleben. So hat er sich vor den Anforderungen des Familienlebens in eine vorzeitige Erschlaffung geflüchtet. „Er war zu dünn, um Verantwortung zu übernehmen“, heißt es einmal. Das Ehedrama wird zart angedeutet, um sich dann zu verdünnisieren. Eine Familienhölle wird hier nicht besichtigt. Sinta Tamsjadi probiert ein Alle-lieben-Mutti-Lächeln an, das an sanften Terror grenzt. Ihr Daseinszweck erschöpft sich darin, hinter allen herzuräumen oder sich selbst von Kopf bis Fuß abzubürsten.

Dann ist da eine Goldmarie, Schühchen und Täschchen passend, an der sich die unschuldigen erotischen Fantasien entzünden. Der Jüngste, ein Wuschelkopf in flaschengrünem Trainingsanzug, flüchtet sich sogleich unter den Rock des blonden Engels. Der Papa bemerkt mit bangem Blick, dass die Verführerin sich die Bluse aufknöpfen will – und nimmt Reißaus.

Es gibt putzige Brüderchen-und-Schwesterchen-Ausgelassenheiten. Kleine-Strolche-Streiche und harmlose Sabotageakte. Das Äußerte an Aggressivität ist erreicht, wenn Papa ein Brötchen in der Hand zerdrückt. Und doch ist dieser Vater Objekt einer überschwenglichen Liebe, die jüngste Tochter, ein süßer Wildfang, dichtet ihm neue Großtaten an und verbiegt sich dabei in einer drolligen Gymnastik. Die Frauen beherrschen mit ihrem Ich-sehe-alles-Blick die familiäre Szene. Oft haben sie aber die Grazie von Anziehpuppen, oder sie nerven mit ihren Manierismen. Die Slapstick-Spezialisten sind wie immer die Männer: Zarte Jünglinge mit verwuschelten Frisuren und zu kurzen Hosen, die leicht verstört über die Bühne tapsen und ihre Dauerkonfusion in graziler Körperkomik ausagieren. Weiland ist herausragend in seiner vogelhaft-kauzigen Grazie, Pattric Schott hübsch vertrotzt, Peter Schott ein niedlicher Stubenrocker, der sich im Kampf mit einem Möbelstück verausgabt.

All das erreicht selten den absurden Witz früherer Produktionen. „Der Familienrat“ zeigt filigran-träumerische Bilder, die hübsch in der Schwebe bleiben, sich aller vorschnellen Deutung entziehen. Doch das Stück tritt eigentümlich auf der Stelle. Die kindliche Verzauberung will sich diesmal nicht einstellen. Sandra Luzina

Weitere Vorstellungen vom 10. bis 13. und 17. bis 19.10. in den Sophiensälen, 21 Uhr.

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