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Der Schriftsteller Anthony Doerr

© Jerry Bauer

Erzählungen von Anthony Doerr: Alle im Boot

Schillernde Gewässer, rauschende Tiefen: Neue Erzählungen des Pulitzer-Preisträgers Anthony Doerr über Bergarbeiter in Detroit und ein untergehendes Dorf in China.

Wasser, so lebenswichtig wie unheimlich, rauscht durch diese Erzählungen. Tief mag es sein wie der ersehnte Ozean der Titelgeschichte, trügerisch kann es locken wie der Sumpf, anschwellen wie der Fluss, wenn er gestaut wird und ganze Dörfer schluckt. Mythische Lebewesen bewohnen eine dunkle, grundlose Welt, die, glaubt man Anthony Doerr, vor allem Frauen fasziniert. Nicht Wissbegier treibt sie, sondern Erfahrungshunger.

Das gilt auch für Ruby Hornaday, die Taucherin werden möchte. Als Zwölfjährige verleitet sie ihren scheuen Klassenkameraden Tom zu abenteuerlichen Ausflügen in die nahe gelegenen Sümpfe, da ihr Sehnsuchtsort, der Atlantik, unerreichbar bleibt. Für sie ist Wasser ein Fluchtweg aus dem Detroiter Armeleuteviertel, das von einem Salzbergwerk beherrscht wird, einer anderen Tiefe, wo die Arbeiter die weiße Hinterlassenschaft des Meeres von den Stollenwänden kratzen. In den Falten der Overalls, in Schuhen und Taschen folgt ihnen das Salz nach Hause, es ist überall. Tom wird nicht im Bergwerk arbeiten können: Sein Herz hat ein Loch, jede Anstrengung kann den Tod bedeuten. Mit seinen Augen folgen wir der vitalen Ruby, lieben sie, vermissen sie, begegnen ihr wieder, trauern.

Zwei Leben, erzählt in entschiedenen, kurzen Sätzen, die trotzdem ein Schwanken erzeugen. Toms Tage wiederholen ein schlichtes Muster, und so kann der Leser die Zeitsprünge der Handlung mühelos überbrücken. Für Tom sind Träume fast so wichtig wie das, was geschieht. Sie durchdringen die Wirklichkeit, auch wenn sie nicht zu realisieren sind, da das schiere Überleben die Kräfte aufzehrt. Anlass zu Klagen gäbe es reichlich, aber geklagt wird hier nicht, wozu auch.

Aus der Perspektive der Verlierer

Fünf weitere Geschichten enthält das Buch. „Dorf 113“ spielt in China und erzählt von einer Landschaft, die unter einem Stausee verschwinden wird. Schritt für Schritt wird der Bauplan umgesetzt, der Damm errichtet. Die Dorfbewohner erhalten eine Entschädigung, zerhacken ihre Hütten, um das Holz zu verkaufen, und ziehen in die Stadt. Die Äcker liegen brach. Auf sie verteilt die Samenhüterin ihre Samen, obwohl sie die Früchte nicht mehr ernten kann. Sie will nicht fort, auch der Lehrer weigert sich, schreibt Protestbriefe an die Behörden und wirft sie, als die Post den Dienst einstellt, als Flaschenpost in den Fluss, der unaufhaltsam steigt.

Erzählt wird aus der Perspektive der Verlierer, aber angeklagt wird wiederum nicht. Das Erzähltempo ist beinahe meditativ. Was sich mitteilt, ist vor allem das Vergehen der Zeit vom Bekanntwerden der Baupläne bis zur Vollendung des Baus. Tage, Wochen, Monate, Jahre: auch hier ein Strömen und Fließen, und die kleinen, meist nur mit einem Wort betitelten Textabschnitte treiben durch den Kopf des Lesers und erzeugen eine Atmosphäre stiller Bedrohung.

Anthony Doerr, der 1973 in Ohio geboren wurde, ist für seine Erzählungen vielfach ausgezeichnet worden, für seinen Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ gar mit dem Pulitzer-Preis. In Deutschland blieb das Echo bislang verhalten. Die letzte Erzählung des Bandes, „Nachwelt“, lässt Vermutungen über die Gründe zu. Wie der Roman ankert sie in der Zeit des Holocaust, doch obwohl tadellos recherchiert und mit Empathie geschrieben, wirkt der Text wie die verbale Wiedergabe jenes ganz in Sepia getauchten Films, der vielleicht eines Tages nach dieser Vorlage gedreht werden wird.

Eine ewige Gegenwart

Der Ton ist sozusagen verschleiert, voller Wehmut: Ab und zu möchte man die Fenster aufreißen, klare Luft atmen und die Poesie zum Teufel schicken. In milderer Form trifft das auch für die übrigen Erzählungen zu. Den besten gelingt es, diesen Second-Hand-Anhauch zu überspielen, nicht zuletzt, weil die Milieus fesseln, Neues und Ungewohntes erfahrbar wird. Perfekt beherrscht Anthony Doerr die Konzentration großer Zeitstrecken in eine ewige Gegenwart, als glitte man über einen See. Kindheit, Jugend, Alter – alles wird ins Boot geholt und ist vorhanden, weil es im Präsens erzählt wird. Hin und wieder kollidiert der Kahn mit dem toten Holz unnötiger oder pathetischer Merksätze; selbst die erste Erzählung liefert ihre Kernaussage wortwörtlich mit, was verstimmt. Doch schon geht es ja weiter, das Wasser schillert und eine neue Geschichte beginnt.

Anthony Doerr: Die Tiefe. Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence. C. H. Beck Verlag, München 2017. 267 Seiten, 22 €.

Gisela Trahms

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