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Kultur: Es ist nie zu spät

Kein Kunstlicht.Keine Filter.

Kein Kunstlicht.Keine Filter.Keine Trennung von Bild und Ton beim Drehen (also auch: keine nachträglich draufgegossene Musiksoße).Kein Wechsel des Drehorts.Kein Aufwand für die Kamera (sowieso: ausschließlich Handkamera).Keine "überflüssige Aktion, Morde, Waffen und so weiter".Keine Genrefilme.Keine Nennung des Regisseurs im Abspann.Kein kein kein.

So lauten die zentralen Regeln des ästhetischen "Keuschheitsgelübdes", das sich vier jüngere dänische Regisseure - Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Sören Kragh-Jacobsen und Kristian Levring - 1995 anläßlich der Hundertjahrfeier des Kinos geschworen haben."Dogma 95" heißt diese zornige Kampfansage an Effekte und Tricks sowie den "per definitionem dekadenten cineastischen Individualismus", aber damit auch an fast all jene Mittel formalen Zaubers, der sogar den schlechtesten Film vom zwangsläufig beschränkten Hier und Jetzt etwa des Theaters unterscheidet.Erstes ausdrückliches Ergebnis dieses blutsbrüderlichen ästhetischen Fundamentalismus ist Thomas Vinterbergs in Cannes vorgestelltes "Familienfest".Lars von Triers "Breaking the Waves", vor zwei Jahren am selben Ort mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, segelte noch nicht unter der Flagge dieser ebenso anregend wie kurios aus der Zeit fallenden dänischen Nouvelle Vague.

Der Befund: Auch dieses Kino lebt.Ob aber besser und stärker, wie es sich seineInitiatoren wünschen, die im Wege der Selbstbeschränkung "mehr Wahrheit" aus ihren Werken herauswringen wollen? Es lebt anders.Es kämpft tapfer gegen die Illusion und weiß doch, daß auch seine Bilder Illusion sind: Licht, das auf eine Leinwand fällt.Außerdem dürfte es, und das ist gut so, zumindest eine Zeitlang wachsend gefragt sein - als Gegengewicht zu einem Kino, das seine Bilder und Stories immer virtueller generiert.La vague en vogue: Mit Lars von Triers "Idioten", ebenfalls im Wettbewerb, macht Cannes demnächst die zweite Probe aufs Exempel.

Vinterbergs Set: ein luxuriöses Landhaus.Sein Thema: der 60.Geburtstag des Patriarchen Helge Klingenfelt.Die erwachsenen Kinder ohne Partner, mit Partner, mit - derangierter - Familie reisen an.Ein Familienfest beginnt, wie es nervtötend voraussehbarer nicht sein könnte - wenn da die Wahrheitswut des ältesten Sohnes nicht wäre, die den Vater schließlich vernichtet.Denn der alte Klingenfelt hat, was der erweiterte Clan nicht weiß, seine Kinder einst mißbraucht; eine seiner Töchter hat sich das Leben genommen.Der Film bezeugt einen Kampf um Wahrheit - und um Freiheit, wie sich herausstellt.Denn während der Vater selbstmitleidlos die Nullsumme seines Lebens zieht, bricht die Versteinerung der großgewordenen Kinder auf.Schmerzliches Glück: Es ist eben nie zu spät, mit dem Leben zu beginnen.

Ein packender, ein sein Publikum manchmal bis ins irre Lachen hinein schüttelnder Film, ja, auch ein erschütternder Film.Aber sind nicht, um in der Nähe zu bleiben, einem Ingmar Bergman ebensolche Erschütterungen gelungen - ohne formale und technische Reduktionen, die diese Arbeit, zumindest bis man sich an ihre entschiedene Merkwürdigkeit gewöhnt hat, wie ein Amateurvideo erscheinen lassen? Dogmen mögen Fronten klären, sind aber kunstfeindlich, Selbstkasteiung zeitigt Unfreiheit; das fühlt der 29jährige Vinterberg.Auf der Pressekonferenz war er es denn auch, der, anders als die irritierten Journalisten, das Wort Dogma am seltensten benutzte.Es ist wohl eher die Gemeinschaft im Protest, die ihn zu binden scheint.

In Iran, wo der politische Fundamentalismus zum Alltag gehört, blüht seit Jahren ein Kino, dem die von den Dänen so stolz aufgestellten Regeln ohne viel Aufhebens geläufig sind - und es gehört zu den faszinierenden Subtexten dieses Festivals, daß man hier aus der Welt der Schraubzwingen-Erkenntnisse einen Saal weiter in gelösteste Philosophie hinüberwandern kann.Auch "Der Apfel" (Regie führte die 18jährige Samira Makhmalbaf, Script und Schnitt besorgte sie zusammen mit ihrem Vater, dem Filmregisseur Mohsen Makhmalbaf) erzählt von einer Familie, von einem Patriarchen, von Töchtern, die am Leben gehindert sind.Jahrelang sind die Zwillinge Zahra und Massoumeh von ihrem Vater im Haus eingesperrt worden, und erst jetzt schaltet sich die Sozialbehörde ein, nimmt die inzwischen zwölfjährigen Töchter weg, bringt sie unter Auflagen zurück - und schließt den Vater für einen Tag hinter seinen eigenen Gittern ein, während die Mädchen blinzelnd und ungelenk hinaus ins Helle stolpern.

Der Film denunziert niemanden, nicht einmal den Vater, der aus einem gesellschaftlichen Zwang heraus gehandelt hat, sondern ist von einem umwerfend stillen Optimismus.Man mag ihn, in iranischem Kontext, politisch und auch feministisch lesen, hier wird man zuerst seinen humanistische Botschaft verstehen, wie letztes Jahr bei Abbas Kiarostamis Palme-Sieger "Der Geschmack der Kirsche".Hier ist es ein Apfel, den ein kleiner Junge an Stock und Schnur durch die Stadt trägt - Verführung zur Freiheit und zum Leben.

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