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Kultur: Es lebe der Unterschied

Die 16.Musik-Biennale ist längst auch Schaufenster des WestensVON VOLKER STRAEBEL"Das Programm der Musik-Biennale will den Besuchern einen Einblick in die schöpferischen Anliegen der sozialistischen und humanistischen Kunst der Gegenwart, bestimmt durch Gegenstand, künstlerische Haltung und Gestaltungsweise, geben.

Die 16.Musik-Biennale ist längst auch Schaufenster des WestensVON VOLKER STRAEBEL"Das Programm der Musik-Biennale will den Besuchern einen Einblick in die schöpferischen Anliegen der sozialistischen und humanistischen Kunst der Gegenwart, bestimmt durch Gegenstand, künstlerische Haltung und Gestaltungsweise, geben.Es enthält neben Werken aus der Deutschen Demokratischen Republik und den sozialistischen Bruderländern Kompositionen aus Westdeutschland und dem westlichen Ausland." Als 1967 das Ministerium für Kultur der DDR und der Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler die Musik-Biennale begründeten, war der Sozialistische Realismus das Gebot der Stunde.Wohl in Anlehnung an den Warschauer Herbst, das kritisch beäugte Fenster des Ostblocks zur musikalischen Avantgarde des Westens, wollte man den in der DDR auf Bezirksebene stattfindenden Musikfesten mit ihrem Mustermessencharakter nationaler Produktion ein Festival hinzufügen, das auch aktuelle Tendenzen des Auslands zur Diskussion stellte. Allerdings nur, solange es sich um Werke handelte, die, wenn sie schon nicht der "großen Sache des Sozialismus" verpflichtet waren, doch eine "humanistische Grundhaltung" erkennen ließen.In den großen Orchesterkonzerten kein Stockhausen oder Boulez also, dafür Henzes "5.Sinfonie" (1962) und Benjamin Brittens "War Requiem" (1961), neben viel Schostakowitsch und Prokofjew anläßlich des 50.Jahrestages der sowjetischen Oktoberrevolution.Zum Programm gehörten, ganz im Sinne von "Weite und Vielfalt" sozialistischen Kulturschaffens, auch Militär- wie Schulmusikkonzerte, und in den Folgejahren sollten populäre Musik und aus den Bezirken anreisende Betriebsdeligationen für volle Säle sorgen.Noch bei der XII.Musik-Biennale im März 1989 durften Jazz, Musik für Kinder, eine Oper für Laienensemble und der Biennale-Ball nicht fehlen.Dafür kamen in den audio-visuellen "Klang-Projekten" im Zeiss-Planetarium erstmals in der DDR Werke von John Cage zur Aufführung, wie sich das Programm überhaupt als Mischung aus international anerkannten Werken und Funktionärsmusik liest. Das Resultat vieler Tauschhändel engagierter Organisatoren mit den Kulturpolitikern eines längst brüchig gewordenen Systems: "Führten wir den Komponisten auf, dessen Frau Abteilungsleiterin beim ZK war, durften wir auch Xenakis spielen", erinnert sich Heike Hoffmann, die seit 1987 als Dramaturgin am Konzerthaus tätig ist und der seither die Programmgestaltung der Biennalen obliegt.Die Wirren der Wende, die Auflösung des Komponistenverbandes im Sommer 1990 mit Entlassung der Mitarbeiter und Kündigung der Büros hielten sie nicht davon ab, an dieser Aufgabe festzuhalten."Wir wollten für 1991 ein Programm machen in Hinblick auf ein größeres Berlin.Ein Festival für ein Publikum, das geteilt ist, und das zwei verschiedene Erfahrungshintergründe hat." War also früher der Westen dem Osten vorgestellt worden, so sollte nun der Westen mit der von ihm zumeist ignorierten Musik der DDR konfrontiert werden. Ulrich Eckhardt übernahm als Intendant der Berliner Festspiele Hoffmanns Programm ohne jede Änderung, und die West-Berliner erhielten Gelegenheit, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Juliane Klein, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, Steffen Schleiermacher, Lothar Voigtländer und Stephan Winkler in veritablen Uraufführungen zu entdecken.Die Musik-Biennale gehört zu den wenigen kulturellen Einrichtungen der DDR, die die Wiedervereinigung überlebt haben.Im erfreulichen Gegensatz zur gegenwärtigen Verdrängung unserer geteilten Geschichte hat dieses Festival in den vergangenen Jahren gerade die Unterschiede der kulturellen Identität in Ost und West thematisiert.Seit 1993 arbeitet die Biennale in ihren Retrospektiven die Musikgeschichte des geteilten Deutschlands dekadenweise auf, wobei das Aufeinanderprallen von Schlüsselwerken aus beiden Staaten von umfangreichen Buchdokumentationen begleitet wird.Diese Textsammlungen, herausgegeben und fachkundig kommentiert von zwei musikologischen Zeitzeugen aus Bundesrepublik und DDR, Ulrich Dibelius und Frank Schneider, sind mit ihrer Zusammenstellung charakteristischer Texte in thematischer Ordnung längst zu Standardwerken der deutsch-deutschen Musikgeschichte geworden, deren systematische Erforschung noch immer auf sich warten läßt. Schwerpunkt der heute beginnenden 16.Musik-Biennale sind die siebziger Jahre, ein für beide Teile Deutschlands unübersichtliches Jahrzehnt der Öffnung.Indem einige westliche Komponisten wie Henze, Nono und Frederic Rzewski im Rahmen zunehmender Politisierung den Elfenbeinturm avantgardistischer Hochkultur zu verlassen und sich neue Hörerschichten zu erschließen trachten, nähern sie sich den ästhetischen Idealen der vom Bitterfelder Weg wieder abgekommenen DDR-Kulturpolitik.Außerdem führt das Aufweichen der künstlerischen Dogmen im Westen zum postseriellen Stilpluralismus, in dem Instrumentales Theater, komplexe Raummusiken und neoromantische Kompositionen nebeneinanderstehen.Zur gleichen Zeit wenden sich russische und baltische Komponisten ebenfalls alter Musik zu, die sie, wie in Alfred Schnittkes Polystilistik, mit neuen kompositorischen Verfahren kombinieren, und in der DDR setzen sich immer mehr Interpreten, allen voran die Gruppe Neue Musik "Hanns Eisler" Leipzig für Aufführungen außerhalb des staatlichen Diktats ein. Aufführungspraktisch bietet das Retrospektiven-Programm zwei besondere Glücksfälle, Konzerte nämlich, in denen genau jene Musiker, die bereits an den Uraufführungen beteiligt waren, nach 20 Jahren wieder zusammenkommen: für die leise kalkulierte Musik Morton Feldmans ebenso wie für das kaum gegensätzlicher zu denkende "Concerto grosso" von Vinko Globokar. Die 22 diesjährigen Uraufführungen versuchen den Spagat, international Bedeutsames vorzustellen, und zugleich in Zeiten knapper Kassen junge, weniger etablierte Komponisten zu bevorzugen.Der außereuropäische Raum mag dabei ins Hintertreffen geraten zu sein, wie man auch aktuelle Formen wie Musikperformance und Multimediakunst fast vergeblich sucht.Der gelegentliche Auszug aus dem Konzertsaal in Museen und die Präsentation von Claudine Brahems Musikmaschinen, für die Giorgio Battistelli auch ein Auftragswerk schrieb, sind jedoch Schritte in diese Richtung.

16.Musik-Biennale Berlin, Internationales Fest für zeitgenössische Musik, vom 7.bis 16.März an verschiedenen Veranstaltungsorten.Zum Retrospektiven-Schwerpunkt erscheint die Textsammlung "Neue Musik im geteilten Deutschland, Band III: Dokumente aus den siebziger Jahren".Herausgegeben und kommentiert von Ulrich Dibelius und Frank Schneider.Musik-Biennale Berlin in Zusammenarbeit mit dem Henschel-Verlag.Festival-Sonderpreis 30 DM, zusammen mit den ersten beiden Bänden mit Dokumenten der fünfziger und sechziger Jahre 54 DM.

CD-ROM Online-Bestellung möglich über die

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