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Kultur: Es wird einmal in Amerika

Mit Giacomo Puccinis „Mädchen aus dem Goldenen Westen“ kommt an der Deutschen Oper Berlin Goldgräberstimmung auf

Diese Musik will etwas ganz anderes. Sie verweigert alle lyrisch-poetischen Herzensergüsse einer „Bohème“, sie huldigt keinem blutrünstigen Gefühlsrealismus mehr à la „Tosca“, und sie muss ihre Kühnheit, ihre osmotische Zukunftsfühligkeit auch nicht länger hinter den Exotismen einer „Butterfly“ verstecken. Diese Musik ist radikal. Radikal modern, radikal sie selbst und in ihren virtuosen Schnitt/Gegenschnitt-Techniken: immerzu auf der Flucht vor sich selbst. Ein gnadenloses Patchwork aus Close Up und Totale, aus Emotion und Frustration, aus kritischem Kommentar und süßlich-süßer Kulinarik. Diese Musik besingt, wenn man so will, nichts als ihr eigenes Goldgräbertum. Sie feiert den Aufbruch in die Neue Welt – den in bester Kolportagemanier ja auch das Stück selbst meint (nach David Belacos Boulevard-Vorlage „The Girl of the Golden West“) – um des eigenen Aufbruchs willen und zur Landnahme neuer ästhetischer Welten. Sie wendet jedes Was in eine manische Hinterfragung des Wie, sie gestaltet Leben am lebenden Objekt und letztlich: im Selbstversuch. Was für ein Wagnis, anno 1910, an der Met, unter der Stabführung immerhin eines Arturo Toscanini! Man stelle sich vor: dieser rasende Erfolg – und mehr als 15 Jahre noch bis zu „Turandot“, mehr als 20 gar bis zu Kurt Weills „Mahagonny“ ...

Viele gute Gründe also, Giacomo Puccinis „La fanciulla del West“ – diese inzwischen ebenso belächelte wie selten gespielte Wildwestoper aus dem Geiste des jungen Tonfilms (mit „The Train Robbery“ wurde 1903 der erste Western gedreht) – erneut auf den Spielplan zu setzen. Wenigstens für verschämte Puccini-Liebhaber, wenigstens für all diejenigen, die musikgeschichtlich etwas lernen, etwas erfahren wollen. Die rührselige Geschichte der keuschen Minnie jedoch, die ihr Dasein als Wirtin in einem Goldgräbercamp fristet, sich eines tristen Tages in einen Banditen verliebt und diesen mit Bibelsprüchen und rauchendem Colt erstens zum Guten bekehrt und zweitens vor dem Galgen rettet, sie dürfte nicht einmal mehr unverbesserliche „Bonanza“- Fans hinter dem Ofen hervorlocken. Christian Thielemann und das Orchester der Deutschen Oper Berlin aber liefern an diesem Abend jeden nur erdenklichen Beweis, für wie wertvoll und schillernd-vielschichtig, für wie tief und klug und cool sie diese Partitur halten. Die Streicher lassen eine Homogenität walten, die dieser Graben schon sehr lange nicht mehr vernommen hat, zaubern Klangteppiche hervor wie Membranen so fein und innig – und doch so porös; das Blech kommt immer schlank und gleißend, als ließe es sich trotz der großen Besetzung weit weniger von Richard Wagner inspirieren (der bei Puccini wie bei Thielemann unweigerlich Pate zu stehen scheint) als vielmehr von Ragtime und Jazz; und alles, was Kolorit malt, der aufwändige Schlagzeugapparat plus Röhrengl, Windmaschine und Fonica auf der Bühne, es dient niemals nur dem vordergründigen Effekt, dem knatternden Western-Klischee, sondern fließt gleichsam als Funke, als überlebenswichtiges Pigment mit ein in eine berstend reiche, bisweilen fast selbstgenügsame Farbpalette. Und was für das Orchester gilt, stimmt für den Herrenchor der Deutschen Oper mit Fug und Recht: Zu welchen Piani, welch hauchzarten Pianissimi Chordirektor Ulrich Paetzholdt seine Mannen hier immer wieder anzuhalten versteht (etwa im schwülstigen Gebet des ersten Aktes), das ist schlichtweg großartig.

Musikalisch wurde also exzellent gearbeitet. Eine Lesart jedoch, die dem dankbar staunenden Hörer verraten würde, wohin Puccini sich in dieser seiner „besten Oper“ nun tatsächlich wendet, will auf diese Weise (noch) nicht entstehen. Mehr Soundtrack zum optischen Breitwandgeschehen? Mehr episches Musiktheater im Spagat zwischen Brecht und Belcanto? Oder beides oder sogar immer alles gleichzeitig wie in kubistischer Kugelgestalt? Hatte Thielemann vor Jahresfrist anlässlich seiner konzertanten „Suor Angelica“ den dramatischen Motor durch genialische Überhitzung zum Glühen und Transzendieren gebracht, so scheint er jetzt doch überlegter zu handeln und zu disponieren, kühleren Blutes auch und irgendwie: erwachsener, vernünftiger. Diese Musik, sie erzieht sich ihre Macher und lässt es ganz einfach nicht zu, dass man sich vom Pult aus kopfüber in jeden gähnenden Gefühlsschlund stürzt. Im Übrigen täte Thielemann gut daran, in den nächsten Vorstellungen mehr noch das Lastende, brütend Depressive und Graufädige vor allem des ersten Aktes ins Visier zu nehmen: jene Strecken, in denen kompositorisch wenig oder gar nichts passiert und alte und neue Welt bis auf Weiteres miteinander verschmelzen, sich ineinander verklumpen – zu einem Amalgam der enttäuschten Hoffnungen und zerborstenen Utopien, zu einem Menetekel namens Gegenwart, irgendwo zwischen Nichtmehr und Nochnicht.

Je souveräner Thielemann dieses orchestrale Kontinuum handhabt (der zweite Akt, die große Liebeshandlung zwischen Minnie und Dick Johnson, gerät ihm zur sehrenden, schmachtenden Sternstunde), umso weniger fällt ins Gewicht, dass die Sängerbesetzung des Abends zu wünschen übrig lässt. Paoletta Marrocu ist eine drahtige, Respekt gebietende Minnie mit einem interessanten, mal kernigen, mal leuchtenden, registerweise allerdings nicht ganz sauber verblendeten Sopran; schade, dass die großen Ausbrüche der Partie sie – nicht nur in der Intonation – hörbar an Grenzen führten. Ihr zur Seite: Lado Ataneli mit sonorem, aber wenig dämonischem Bariton als eifersüchtelnder Sherriff Jack Rance und Dario Volonté als Johnson, der Rivale und böse Bandit, dessen Tenor allerdings von vorneherein matt und heiser wirkte und wenig Erotik verströmte. Hübsche Glanzlichter hingegen im übrigen dreizehnköpfigen Goldgräberensemble.

Ja, und was gibt‘s zu sehen? Viel und wenig zugleich, zu viel und zu wenig, wenn man so will. Vera Nemirowa und ihr Ausstatter Klaus Werner Noack scheinen sich bis zum Schluss nicht darüber klar geworden zu sein, was sie mit diesem Stück eigentlich sagen wollen – und vor allem: wie viel Naivität wohl nötig ist und wie viel Ironie möglich, um die krude Fabel (die sich letztlich auf eine simple Dreiecksgeschichte reduzieren lässt) so zu erzählen, dass sie nicht permanent das Niveau der Musik unterläuft. Da hilft es wenig, so nett es auch ist, die Goldgräber bereits im Foyer nach Amerika auswandern zu lassen: mit tutenden Schiffssirenen und winkenden Matrosen. Im gelobten Land und ersten Akt angekommen, finden sich die Glückssucher prompt in hässlichen Wellblechhütten wieder und auf Montage – die Desillusion beginnt. Die Frage freilich, wer Minnie in diesem Ambiente sein soll (ein Blaustrumpf, eine Heilige?) und warum die Tagelöhner sie nicht längst massenvergewaltigt und in Stücke gerissen haben, sie interessiert hier niemanden: Der zweite Akt zeigt sie als Braut und ihn als Bräutigam und ernsthaft ganz in Weiß, als wäre die Liebe eine Erfindung der Scarlett O‘Hara. Im dritten Akt schließlich fährt Nemirowa, als wäre sie dies ihren Lehrern Ruth Berghaus und Peter Konwitschny schuldig, unvermittelt riesige Regiegeschütze auf: Ein Fernsehteam, oje, filmt Johnsons (Fast-)Hinrichtung, Minnie erhebt sich im kleinen Schwarzen aus dem Publikum, das Saallicht flackert, und ganz am Ende entschwinden die beiden Liebenden in einem dramatischen Wolkenhimmel gen Brandmauer. Großes Kino, großer Kitsch. Armer Puccini.

Wieder am 30. März sowie 2. und 5. April

Christine Lemke-Matwey

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