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Kultur: Esras Ende

Ein

von Gregor Dotzauer

Der Streit um Maxim Billers Roman „Esra“ ist die aufsehenerregendste Auseinandersetzung um die Kunstfreiheit seit langem. Nun hat er zumindest ein juristisches Ende gefunden: Soeben hat der Bundesgerichtshof das Verbot des Buchs bestätigt, mit dessen autobiografischem Gehalt der Verleger schon bei seinem Erscheinen 2003 kokettierte. „Esra“ erzählt von der unmöglichen Liebe eines jungen Münchner Autors zu der deutschtürkischen Titelheldin – und von den Knüppeln, die ihm deren egozentrische Mutter zwischen die Beine wirft. Diese Geschichte, so das Gericht, greife in schwerwiegender Weise in das Persönlichkeitsrecht von Billers Ex-Freundin und deren Mutter ein. In den Figuren Esra und Lale seien auch nach Retuschen die beiden Klägerinnen zu erkennen.

Aber markiert der Prozess, verglichen mit dem Urteil zugunsten von Klaus Manns „Mephisto“-Roman über die Nazi-Verstrickungen des Schauspielers Gustaf Gründgens, einen historischen Wendepunkt? Ist er gar der Auftakt zu einer Flut weiterer Klagebegehren? Vieles spricht dafür, die Entscheidung gelassen zu sehen – vor allem, weil der heikelste Punkt des Buchs gar nicht justiziabel ist. Er betrifft das moralische Problem eines Liebesverrats, den der Erzähler begeht, wenn er die Bitten seiner Geliebten ignoriert, ihr Leben nicht als Erzählstoff zu missbrauchen.

Das Urteil trifft keine Aussage über den literarischen Wert des Buches. Dieser Wert hat Juristen auch nicht zu interessieren. Sie können keine sinnvolle Abwägung treffen zwischen dem Interesse der Klägerinnen, mit intimen Details nicht unfreiwillig zum Gegenstand schmähender Darstellung zu werden, und der sprachlichen Leistung, der gedanklichen Erkenntnis oder dem humanen Kern des Buchs, der diesem Interesse im Verbotsfall zum Opfer fällt. Sie müssen darauf nicht verzichten, weil sie keine Literaturkritiker sind, sondern weil die Frage von Persönlichkeitsrechten die Frage von literarischen Verdiensten schlicht nicht berührt. Theoretisch könnte einem Gericht also auch ein literarisches Meisterwerk zum Opfer fallen. Doch ist dieser Fall wahrscheinlich? Auch gute Literatur mag aus privater Rachsucht entstehen, sie wird sich aber die Freiheit nehmen, die Wirklichkeit zu verwandeln – ihr Adressat ist nicht eine bestimmte Figur, sondern ein Publikum.

Unterziehen sich, wie Billers Verleger Helge Malchow befürchtet, Autoren nun tatsächlich mehr und mehr „einer inneren Vorzensur beim Schreibprozess“? Dagegen ist zu sagen, dass bewusstes Schreiben nichts anderes ist als die permanente Vorzensur aller sprachlichen und inhaltlichen Aspekte. Wenn Biller seine Figuren in der ersten Druckfassung so anlegte, dass ihre Klarnamen binnen Sekunden im Internet für jedermann zu recherchieren waren, kann man das mit dem Schmerz enttäuschter Liebe erklären – mit literarischer Notwendigkeit lässt es sich nicht rechtfertigen.

Künstler dürfen andere Dinge tun als Journalisten. Sie müssen es sogar. Sie dürfen gemeiner, subjektiver, kurz: deutlicher sein, sie müssen in Sachen Adresse und Telefonnummer der Beteiligten aber zugleich undeutlicher bleiben. Sonst dürfen sie sich nicht wundern, wenn dort, wo bei ihnen eine allzu leicht erkennbare Wirklichkeit um die Ecke lugt, diese Wirklichkeit auf sie zuspringt und sie am juristischen Schlafittchen packt.

Die mögliche Ausweitung von Persönlichkeitsrechten ist im Übrigen nur eine der Sorgen, die man sich im Namen der Kunstfreiheit machen kann – und im Zeitalter massenhafter seelischer Selbstentblößung und datenmäßiger Durchleuchtung fast eine kuriose. Mindestens so gefährlich können Vorwürfe wie die Verletzung religiöser Gefühle werden – wie der Franzose Michel Houellebecq erfahren musste. Kunstfreiheit? Vielleicht ist das ja auch ein innerer Zustand: die Fähigkeit, sich das Schreiben nicht nur von Gefühlen diktieren zu lassen.

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