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© Jan Banning / Laif

Essay: Die neue Sezession

Amerika nach Barack Obamas Gesundheitsreform: Das Misstrauen gegenüber dem Zentralstaat ist ein historisches Mantra.

Kaum war das neue Gesetz zu Barack Obamas Gesundheitsreform verabschiedet, gab es Morddrohungen gegen dessen Unterstützer im Kongress. Ein Dutzend Bundesstaaten haben die Regierung in Washington sogleich verklagt; sie wollen verhindern, dass das Gesetz in Kraft tritt. Was hier wieder auflebt, sind weniger die Kulturkämpfe der 60er Jahre als die bewaffneten Kämpfe 100 Jahre zuvor. Im Sezessionskrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten (1861–1865) wurde um die politische Hierarchie gekämpft. Wer hat die Macht, die US-Regierung oder die Bundesstaaten? Elf Staaten wollten sich abspalten, bestanden auf regionale Kontrolle und Sklavenhaltung. Etwa die gleiche Zahl zieht jetzt gegen Obama vor Gericht.

Zwar haben die elf Staaten die militärische Auseinandersetzung damals verloren, nicht aber den Kulturkampf. Amerika, diese aus der Rebellion gegen die britische Heimatregierung geborene und in Jahrhunderten von auf sich selbst gestelltem Pioniergeist gewachsene Nation, hält den Staat für zu inkompetent und eigennützig, um irgendetwas richtig zu machen. Besser, man verlässt sich auf fleißige, unternehmerische, eigenverantwortliche Individuen, die allein oder in freiwilligen Vereinigungen arbeiten, wie Tocqueville sie nannte. Regionales Handeln, regionale Identität und Kontrolle sind Fundamente der amerikanischen Verfassung. Das Misstrauen gegenüber Washington fällt leidenschaftlicher aus als Europas Unbehagen gegenüber Brüssel.

Dieser amerikanische Glaubenssatz gilt gleichermaßen für die Linke wie für die Rechte. Er nährt regionale Rassentrennung, eine standortfeindliche Arbeitsplatzpolitik und den Widerstand gegen Umweltschutzmaßnahmen ebenso wie progressive Bildungssysteme, strikte regionale Umweltgesetze oder das linke Bestreben, die globalisierte Wirtschaft regional zu kontrollieren. Der Glaubenssatz bescherte Obama den Einzug ins Weiße Haus – und die Proteste vor der Haustür.

Elf Staaten klagen jetzt gegen das neue Gesetz

2008 hatte er „change“ versprochen, die Ablösung einer Regierung, die zunehmend unter Verdacht stand, Amerikas Ideale zu verraten. Wir Amerikaner wollen tatkräftige, verantwortungsvolle Verfechter einer liberalen Wirtschaft und einer freiheitlichen Politik sein. Aber in den Kriegen in Irak und Afghanistan sind wir kaum als Befreier aufgetreten, und unsere liberale Wirtschaft ist abgesoffen. Klar, die Regierung hat wieder mal versagt. Mit seinem Ruf nach „change“ verhielt sich Obama also äußerst traditionell.

Aber nun ist Obama die Regierung und sieht sich mit dem entscheidenden Paradox der amerikanischen Politik konfrontiert: Das Misstrauen gegenüber dem Staat trifft nun ihn selbst. Zunächst waren die Anti-Obama-Proteste überwiegend rassistischer Natur und basierten auf der Angst vor demografischen Veränderungen in Richtung eines dunkleren Amerika. Aber die Protestwelle stieg mit den Bankenrettungsmaßnahmen der Regierung, die den Geldinstituten wieder Profite beschert, während die Leute weiter ihre Jobs verlieren und Zwangsräumungen erleben. Die Wut darüber hat viele zu ihrem alten Glauben bekehrt. Klar, die Regierung hat es wieder mal versaut. Aber sie hat es, im Schulterschluss mit dem Big Business, für den hart arbeitenden, unternehmerischen kleinen Mann versaut – zum Wohle der Reichen.

So weit die Diagnose der Linken und der populistischen Rechten. Die „Patriot“-Bewegung – die klassische Libertaristen, waffenstarrende Milizen, Einwanderungsgegner und Gegner des Zentralbanksystems vereint – behauptet, dass Regierung und Wirtschaft vom informellen Bilderberg-Club, der von Rockefeller gegründeten Trilateralen Kommission (ein Thinktank der Wirtschaftsblöcke Amerika, Europa und Japan) und dem Rat für Auswärtige Beziehungen kontrolliert werden. Dem würde Michael Moore kaum widersprechen. Die Oath Keepers – eine Gruppe, die militärische und gesetzliche Maßnahmen gegen jede vermeintlich verfassungsfeindliche Freiheitsbeschränkung fordert – protestieren gegen Polizeiaktionen ohne Durchsuchungsbefehl und gegen Internierungslager für Zivilisten wie Guantanamo. Dem wiederum würden Menschenrechtsaktivisten durchaus zustimmen.

Richard Mack, ein ehemaliger Sheriff und früherer Cadillac-Vertreter, ist ein Volksheld, weil er sagt, man könne grundsätzlich nur der Lokalpolitik über den Weg trauen. Gern erzählt er das Beispiel von dem Polizisten, der die Menschenrechtsaktivisten in den 50er und 60er Jahren lieber in Sicherheit brachte, statt sie nach Recht und Gesetz zu verhaften. Wer fände solche Eigeninitiative nicht sympathisch?

Amerikas Credo: Ich bin mein eigener Boss

Für einen Schulterschluss braucht es immer zwei: Big Business und einen starken Staat. Zwar erkennen die Populisten die Gefahren, die von beiden ausgehen, aber sie wollen nur eine Seite beschränken, den Staat. Die Wirtschaft können sie nicht beschneiden, weil sie glauben, dass sie selbst vom freien Markt profitieren, der die Wirtschaft begünstigt. Sie ziehen diese Lehre aus der Geschichte. 300 Jahre Marktliberalismus haben für einen hohen Lebensstandard und eine flexible, kreative Ökonomie gesorgt, die Millionen Menschen aus aller Welt anzieht. Wenn es jedoch problematisch wird – wegen Investitionsmodellen nach Wild-West-Manier oder 46 Millionen ohne Krankenversicherung –, glauben viele Amerikaner nicht an eine Lösung.

Wenn zum Beispiel John McCain die Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte, hätte er den Banken bestimmt sehr viel günstigere Konditionen für ihre Rettung gewährt: Sie hätten dem Staat, und damit der Gesellschaft, noch weniger Zugeständnisse machen müssen. Aber unter dem republikanischen Mantra eines „small government“ und mit minimaler Marktregulierung hätte sich McCains Bankenrettungsplan doch irgendwie „amerikanisch“ angefühlt.

Es gab eine kurze Periode in der US-Geschichte, als fast alles anders war. Angesichts der unmenschlichen Arbeitsbedingungen Ende des 19. Jahrhunderts hatten viele die Einsicht, dass die Regierung den Bürger vor Monopolen und der Gier der Konzerne schützen müsse. Teddy Roosevelt setzte Reformen durch, und sein Neffe Franklin D. Roosevelt reagierte auf die Depression der 1930er Jahre mit keynesianischer, also staatlich gelenkter Wirtschaftspolitik.

Doch die unorthodoxe Roosevelt-Ära währte nur kurz. In den 60er Jahren – die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg waren Geschichte – kehrte Amerika zu seinem orthodoxen Glauben an das Individuum und die Standortpolitik zurück. Lyndon B. Johnsons Bürgerrechtsgesetze und seine Sozialreformen wurden von vielen nicht als Unterstützung der Regierung für den einfachen Amerikaner angesehen, sondern als Almosen für die Faulen und Unfähigen (und die Schwarzen) – und als Beschädigung des unternehmerischen Individualismus.

Die Linke, die Rechte: seltsam populistische Allianzen

Die Populisten von heute sind die Erben dieser Orthodoxie. Die Anhänger der Tea-Party-Bewegung wollen die Steuern senken, damit die Bürger und Gemeinden auf diese Weise genügend Mittel haben, um ihre Probleme alleine zu lösen – ohne die Regierung in Washington. Den Bundeshaushalt könne man ausgleichen, indem man die Regierungsprogramme eindampft, die ohnehin nichts bringen, weil die Regierung ja immer nur Mist baut. Obamas Gesundheitsreform erscheint ihnen folglich total verrückt. Schon von seinem Bankenrettungsplan profitierten die Banken und nicht die einfachen Amerikaner: Warum sollte das bei der Gesundheitsreform anders sein?

Die Republikaner versuchen, sich diese Gemütslage zunutze zu machen. Etwa durch Lobbyorganisationen wie die Freedom Works, die Beratung und Logistik anbieten; oder durch charismatische Persönlichkeiten wie Sarah Palin, die den Leuten der Tea-Party zuruft, sie sollten „nachladen“. Allerdings ist es für die Partei nicht einfach, Kandidaten zu finden, die für staatsgläubige Business-Republikaner mit gemäßigten Ansichten zur Sozialpolitik ebenso wählbar sind wie für rassistisch-nationalistische Staatsskeptiker. Doch es könnte klappen. 74 Prozent der Tea-Party-Anhänger sind den Republikanern gewogen, und die republikanischen „Small Government“-Plattformen gehören immer noch zum amerikanischen Katechismus.

Jede Gesellschaft hat ihre Grundsätze. Den Deutschen ist die Kirche suspekt, sie vertrauen dem Staat – auch wenn das schon einmal furchtbar schiefgegangen ist. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus sollten eigentlich alle Deutschen Graswurzel-Anarchisten sein. Sind sie aber nicht. Stattdessen verspotten sie die Amerikaner dafür, dass sie nicht die Vorteile einer staatlich regulierten sozialen Marktwirtschaft sehen wollen, obwohl auch Deutschland seine Sozialleistungen nicht mehr finanzieren kann. Wer sich die Langlebigkeit kultureller Prägungen vor Augen führt, sollte sich über Amerika in diesen Tagen nicht wundern.

Die Autorin ist Professorin für Multicultural Studies an der New York University. Zuletzt erschienen von ihr: „Liebeserklärungen aus Kreuzberg und Manhattan“ und „Die hintergründige Religion. Der Einfluss des Evangelikalismus auf die US-amerikanische Politik“ (Berlin University Press) – Aus dem Amerikanischen von Philipp Lichterbeck und Christiane Peitz.

Marcia Pally

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