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Beschreiben des Beschreiben des Unbeschreibbaren. Ein Manuskript auf dem Schreibpult von Friedrich Schiller in Weimar.

© Imago/Günter Schneider

Essay zu Poesie und Politik: Zimmer mit Aussicht

Was vermag die Poesie in Zeiten der Krise? Gedichte sind Orte der Begegnung, der Belebung, der Freiheit.

Wer auf das Handeln seiner Mitmenschen Einfluss nehmen möchte oder erklären will, wieso etwas richtig oder falsch ist, sollte es lieber mit Prosa versuchen als mit Poesie. Gedichte können gelegentlich überzeugen, erklären, befürworten oder verteidigen, aber letztendlich geht es ihnen um etwas anderes: um Schönheit, die Kraft der Sprache, um Freiheit. Um etwas, das unserem Verstand erlaubt, der Freiheit vollständig zu verfallen, fast auf anarchische Weise.

Das macht die Poesie zu einem unzuverlässigen Mittel der Interessenvertretung. Die Aufmerksamkeitsspanne eines Gedichtes ist kurz. Die Poesie driftet schnell ab, von der politischen Demo, Parlamentssitzungen oder Gerichtsanhörungen hin zum See oder dem mysteriösen Licht, das am Horizont flackert. Was ist das bloß für ein Licht?

Dieses Abdriften ist mehr als Luxus oder Narzissmus. Es dient einem besonderen Zweck. In seinem Essay „The Noble Rider and the Sound of Words“ argumentiert der amerikanische Poet Wallace Stevens, dass die Poesie ein Ort ist, an dem wir unsere Vorstellungskraft vor dem „Druck des Realen“ schützen können. Ein Rückzugsort, der einen vor der Informationsflut und den tragischen Ereignissen der Realität schützt. Wer sich diesem Ort verwehrt, so Stevens, riskiert den Verlust der Imagination als etwas Urmenschlichem.

Nur Smartphone-Verzicht macht ein Entkommen möglich

Stevens schrieb den Essay am Vorabend des amerikanischen Eintritts in den Zweiten Weltkrieg. Die Nachricht verbreitete sich gerade wie ein Lauffeuer; dieses Getrommel, das Stevens beschrieb, ist seitdem erheblich lauter geworden. Zeitweise macht es mich taub für alles andere. Mir scheint, dass nur der komplette Technikentzug samt Smartphone-Verzicht es möglich machen, dem ohrenbetäubenden Getrommel zu entkommen, das sich aus den Gedanken, Meinungen, Überheblichkeiten, Halbwissen und Ängsten aller Menschen ergibt.

Es gibt einen Punkt, an dem dieses Dröhnen aus persönlichen Meinungen und Ängsten uns vom Handeln abhält. Die entfesselte Angstmacherei der Nachrichten birgt die Gefahr, uns unserer Energie zu berauben, unseren Scharfsinn zu trüben. In den sozialen Medien und anderswo wird derweil unsere Aufmerksamkeit in klingende Münze umgesetzt, was nicht nur dem Einzelnen schadet, sondern der gesamten Gesellschaft.

Mit dem „Druck des Realen“ meinte Stevens eine Gewalt, die uns zugefügt wird. Das Schutzschild dagegen war für ihn die Poesie – nicht um der Wirklichkeit zu entkommen, sondern um in unserem Inneren einen Platz für Imagination, Liebe und Menschlichkeit zu erhalten. Einen Platz, der das Leben vereinfachen kann. Gerade weil die Poesie schnell abdriftet, kann sie das Imaginäre schützen. Sie dient keinem anderen Zweck, nicht der Narration, der Argumentation, dem An- und Verkauf, der Predigt oder der Verurteilung.

Poeten helfen uns, unser Leben zu leben

Eine der größten Gefahren für unsere Spezies ist das Unvermögen, einander zu verstehen. Unverständnis macht sich nicht nur auf der persönlichen Ebene bemerkbar, sondern, und das ist deutlich beunruhigender, auch bei gesellschaftlichen Gruppierungen, die unterschiedliche Weltbilder haben. Etliche Gruppierungen scheinen nach eigenen Fakten und in eigenen Welten zu leben. Vielleicht war das schon immer so, aber es fällt uns erst jetzt auf.

Welche Rolle nimmt die Poesie in dieser Gemengelage ein? Poeten helfen uns, unser Leben zu leben. Nicht indem sie uns vorschreiben, was wir zu denken haben, sondern durch die Erschaffung von Räumen, in denen die Imaginationen der Einzelnen aufeinandertreffen und interagieren können. Gedichte sind imaginäre Gebilde aus Worten, die für jeden Leser zugänglich sind. Sie sind Orte der Freiheit und der Belebung.

Die Kreation dieser Orte ist dringend nötig. Die weitverbreitete Ablehnung allgemeiner Wahrheiten, so scheint es mir, ist nicht auf Ignoranz oder einen Mangel an Information zurückzuführen. Die Menschen werden oft genug nicht nur auf Probleme hingewiesen, sondern auch auf Lösungsansätze. Trotzdem zweifeln viele die Existenz von sozialer Ungleichheit an, von Rassismus oder dem Klimawandel. Sie zweifeln, weil sie sich diese Probleme nicht mehr vorstellen können oder wollen. Die Menschen handeln unbarmherzig, weil ihre Mitmenschen für sie abstrakt geworden sind.

Dichter schützen unsere Sprache und den Verstand

Wer aber nicht völlig geistig umnachtet ist, kann genesen, kann sich ändern. Das ist nicht die Aufgabe von Information, sondern von Imagination. Die Rolle der Dichter in diesen Zeiten der Krise bleibt unverändert: unsere Sprache und unseren Verstand zu schützen, damit wir für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet sind. Und sie ermöglichen den Dialog, nicht durch Argumente, sondern durch das Aufzeigen der Möglichkeiten.

Stevens war überzeugt, dass die Poesie uns das Leben erleichtert, indem sie unsere alltäglichen Erfahrungen vertieft. Der Poet soll Stevens zufolge Gedichte schreiben, die als Schutzschild gegen die zermürbende Wirklichkeit genutzt werden können. Eine kleine Hilfe gegen die Banalität, den Schrecken, die alltäglichen Ablenkungen, das Geldwesen – gegen die Kräfte, die uns das Gefühl geben, machtlose Roboter zu sein. Die Pariser Surrealisten der dreißiger Jahre hatten ähnliche Anforderungen an die Poesie: dass sie den Alltag mit der Welt der Imagination und der Träume verknüpfen soll, um eben diesem Alltag zu entkommen.

Der amerikanische Schriftsteller W.S. Merwin hat einmal geschrieben, dass „die Poesie Individuen in ihren intimsten, privatesten, ängstlichsten oder freudigsten Momenten anspricht. Wir wenden uns ihr zu, wenn wir Krisen erleben, weil die Poesie, mehr als jede andere Kunstform, das thematisieren kann, wofür wir keine Worte finden. Durch das Beschreiben des Unbeschreiblichen, bleibt die Poesie dem Ursprung der Sprache nah.“ Die US-Lyrikerin Brenda Hillman meint, dass ein Gedicht „aus einem Moment des Bewusstwerdens etwas erschaffen kann, das auf keine andere Art Ausdruck finden könnte“.

Die Nachrichten der Poesie sind mehr als nur Fakten

Die Poesie verdrängt unsere gewöhnlichen Sprachgebräuche und Denkungsarten, damit wir auf andere Art denken und fühlen können. Gedichte zu lesen oder zu hören ist eine Erfahrung, die sich grundsätzlich von Alltagserfahrungen unterscheidet. Je mehr Bedeutung die mobilen Kommunikationsmedien und die mit ihnen einhergehenden Informationsströme und „Erfahrungen“ bekommen, desto dringender brauchen wir ein Gegengewicht, Momente aufrichtiger Aufmerksamkeit.

Der amerikanische Dichter William Carlos Williams meinte dazu: „Es ist schwierig/ in Gedichten die Nachrichten zu finden/ trotzdem sterben tagtäglich Menschen qualvoll/ aus Mangel an jenem, was in den Gedichten zu finden ist“. Die „Nachrichten“ der Poesie sind weit mehr als reine Information, Fakten und Meinungen.

Das Wort „Nachricht“ erinnert mich an das Wort „Gospel“, welches dem griechischen Wort „euangelion“ entspringt und „frohe Botschaft“ bedeutet. Die „frohe Botschaft“ der Poesie ist nicht die, dass am Ende alles gut wird, wir uns keine Sorgen machen müssen oder wir uns in unseren imaginären Schutzraum zurückziehen können, während draußen die Welt untergeht. Im Gegenteil: Die Botschaft ist die, dass die Poesie uns zumindest für einen kurzen Moment Zuflucht vor dem allgegenwärtigen, oberflächlichen Getrommel des Realen bietet. Einen Ort, an dem wir uns neu erfinden können, damit draußen etwas Neues, Anderes daraus entstehen kann.

Matthew Zapruder ist Lyriker und Professor am Saint Mary’s College of California. Zuletzt betreute er die Poesie-Kolumne des „New York Times Magazine“. In seinem aktuellen Buch „Why Poetry“ (Ecco) denkt er über den Nutzen der Poesie in der Gegenwart nach. – Aus dem Englischen von Max Tholl.

Matthew Zapruder

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