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Die russische Dichterin  Marina Zwetajewa.

© Imago

Essaysammlung von Marina Zwetajewa: Stets auf dem Sprung

„Lichtregen“: Die Essays und Erinnerungen der großen russischen Dichterin Marina Zwetajewa.

In ihrem Nachleben ist Marina Zwetajewa (1892-1941) überreich zuteil geworden, was ihr im tatsächlichen Leben, nach großartigem Beginn, gefehlt hat. Sie gilt heute neben und mit Anna Achmatowa als bedeutendste Lyrikerin russischer Sprache.

Anders, als sie im französischen Exil geklagt hat – „hier werde ich gedruckt, aber nicht gelesen, dort nicht gedruckt, aber gelesen“ –, wird sie hier wie dort, im Ausland wie in Russland selbst, gedruckt und gelesen – und vor allem verehrt.

Lyrik war ihr heilig, Prosa schrieb sie nur des Geldes wegen

Letzteres hat viel mit ihrer Biografie zu tun, diesem Lebensweg aus der lichten Höhe des wohlsituierten Akademikerhaushalts in Moskau über die Sorgenfülle des Exils in Frankreich samt Einsprengseln in Berlin bis zur Rückkehr in die nunmehrige Sowjetunion unter Stalin und dort das Ende durch eigene Hand, weil man der Hungernden, der politisch Verfemten nicht einmal die erbettelte Stelle als Tellerwäscherin im Haus des Schriftstellerverbandes zu geben bereit war.

Natürlich kommt man nicht umhin, dieses Lebensschicksal mitzudenken, wenn man ihre Texte liest, zumal die Essays und Erinnerungen, die jetzt unter dem Titel „Lichtregen“ als zweiter Band der von Ilma Rakusa betreuten Werkausgabe vorliegen.

Denn die Texte sind zwischen 1922 und 1937 im Exil entstanden, in Berlin, in Prag oder den Vororten von Paris, wohin immer die Dichterin umziehen musste. Prosa habe sie um des Geldverdienens geschrieben, hat sie gesagt, heilig war ihr die Poesie. Aber was für Prosa ist unter diesem Vorzeichen entstanden!

Verstörend ist „Meine Antwort an Ossip Mandelstam“, eine bitterböse Abrechnung mit dem Dichter, der vor allem durch sein Schmähgedicht gegen Stalin, das ihm das Genick gebrochen hat, berühmt geblieben ist. Auch da spielt die Biografie in die Bewertung hinein.

Aber was Zwetajewa ihm vorwirft, das Kleinliche, Hämische, das dieser den Weißgardisten nachgeworfen hat, das mag stimmen, ebenso wie die „Schnitzer“ in seinen Gedichtzeilen, die sie ihm ankreidet, etwa: „Eine Schildkröte, die sich umgedreht hat und genüsslich den Bauch wärmt? Sie haben nie eine gesehen.“

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Zwetajewas Mann Sergej Efron war bekanntlich Weißgardist und ist 1941, denn Stalin vergaß nie, dafür auch erschossen worden, aber das steht auf einem anderen Blatt. Der Schluss dieses Textes ist deutlich: „Wie kann ein großer Dichter ein kleiner Mensch sein?“

Dies aber, nachdem sie Mandelstam wenige Zeilen zuvor bescheinigt hatte, „sich in den Jahren der Revolution nicht schuldig gemacht“ zu haben. Das hat Größe. Sie war früh mit Mandelstam befreundet. Er fertigte ihre Gedichte einmal in einer Zeitung als „Kunsthandwerk“ ab.

[Marina Zwetajewa: Lichtregen. Essays und Erinnerungen. Gesammelte Werke Bd. 2. Herausgegeben von Ilma Rakusa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 928 Seiten, 44 €.]

Dieser Essay ist sicher nicht das stärkste der hier versammelten 18 Texte auf fast 800 Seiten. Gerade deshalb sei er am Anfang genannt: Weil die übrigen meist so viel besser sind, aber mit dem zitierten die persönliche, subjektive Ansprache teilen. Zwetajewa ist niemals objektiv, das ist nicht ihre Kategorie. Sie setzt dagegen das Recht des eigenen Blicks und der eigenen Erinnerung.

Wenn sie über Dritte aus Distanz schreiben will, gerät sie ins Stocken, wie in ihrem Essay über die Malerin Natalja Gontscharowa, die sie im Pariser Exil kennenlernt. Vielleicht war auch der Abstand zu deren gesicherter Existenz zu groß. Zwetajewas Texte erschienen ausschließlich in russischen Exilblättern.

Das Sprunghafte kennzeichnet die Erinnerungen

Man staunt, was für ein Gedächtnis sie hat. Die Erinnerungen an Dichterkollegen sind lebensprall und überbrücken doch spielend die Jahrzehnte. Es sind nicht zuletzt Erinnerungen an glückliche Jugendtage, da Marina 17-jährig ihren ersten Gedichtband veröffentlicht und Bewunderer und Förderer gewinnt.

Einer, der Dichter Maximilian Woloschin, wird ihr väterlicher Freund; „Alles, was mich Max gelehrt hat, habe ich für immer im Gedächtnis behalten“. Nach seinem Tod schreibt Zwetajewa das Stück „Lebendes über einen Lebenden“, darin die hinreißende Erzählung einer gemeinsamen Neujahrsnacht auf der Krim, mit Kutschfahrt im Schneesturm und Brand im Wohnhaus am Meer.

Dieses Sprunghafte kennzeichnet die Erinnerungen, die Vergegenwärtigung weit zurückliegender Ereignisse. Einen Abend in der „Prager Diele“ mit Andrej Belyi schildert sie lebhaft, darauf unvermittelt der Satz: „Aus dem Berlin von 1922 zurück ins Moskau von 1910“. Und wiederum folgen Dialoge, als ob Zwetajewa sie eben mitstenografiert hätte, dazu die Gedichtzeilen, die sie überall einstreut.

„Politischer Hass ist dem Dichter nicht gegeben“

Abgesehen von dem Stück über Mandelstam spielt die Politik keine große Rolle, aber sie ist da. So erwähnt sie die herablassende Kritik eines „Offiziersburschen“ an ihren Gedichten, ganz kurz vor der Revolution, sie schreibe „andauernd über Alleen und über die Liebe“. Nun, 1931, setzt sie in Klammern dahinter: „Ist das nicht schon der ganze Vorwurf der Sowjets?“

Wo sie selbst stand, macht sie deutlich mit ihrem Wort über den bewunderten Dichterfreund Woloschin „während der Revolution“: „Er rettete die Roten vor den Weißen und die Weißen vor den Roten, genauer: den Roten vor den Weißen und den Weißen vor den Rotem, das heißt den Einzelnen vor der Bande, den Einzelnen vor allen, den Besiegten vor den Siegern.“ Wenn sie am Ende ihres Puschkin-Aufsatzes von 1937 schreibt – 1937, als Stalin mitten im Großen Terror ein Puschkin-Jahr feiern ließ! –, „politischer Hass ist dem Dichter nicht gegeben“, dann konnte sie der offiziellen Politik und dem Kampf gegen „Volksfeinde“ nicht ferner stehen.

Zwetajewa war Dichterin, und ihre Prosatexte sind eine Freude zu lesen, zumal von Ilma Rakusa so kundig erläutert und mit hilfreichen Anmerkungen versehen. Man muss ihre bestürzende Biografie nicht bemühen, um ihr Werk zu schätzen. Sie selbst hätte das am heftigsten von sich gewiesen.

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