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„Alles ist Kammermusik“. Der estnische Stardirigent Paavo Järvi.

© Kaupo Kikkas

Estnisches Festival mit Paaro Järvi: Ein Sehnsuchtsort für Klassik-Fans

Konzerte, Coachings, Unterricht – und alles ohne Masken: Das von dem Dirigenten Paavo Järvi geleitete Klassik-Festival im estnischen Seebad Pärnu.

In der Konzerthalle von Pärnu mag man den Augen kaum trauen: Die Musiker des Tallinn Chamber Orchestra sitzen beim Eröffnungskonzert ohne Corona-Distanz auf der Bühne, und auch im Saal trägt niemand eine Maske. Die niedrigen Infektionszahlen in Estland ermöglichen es bereits seit dem 1. Juni, dass nicht nur auf den Straßen, in Restaurants und am Strand ein normales Bild herrscht, sondern dass auch das Musikfestival stattfinden kann. Dirigent Paavo Järvi entert dynamisch das Pult, das Konzert hebt an mit Arvo Pärts „Cantus in Memory of Benjamin Britten“.

Järvi hat das mystisch aufgeladene Werk bewusst an den Anfang gestellt, denn es beginnt mit einem feinen Glockenschlag über wispernden Streichertremoli, die sich sogartig verdichten. Die geheimnisvolle Glocke und der zunehmend satte Sound wirken erlösend, so als würde endlich eine neue, bessere Zeit eingeläutet werden.

Paavo Järvi, gebürtiger Este und weltweit begehrter Dirigent, unter anderem Chef des Tonhalle Orchesters Zürich und der Bremer Kammerphilharmonie, leitet seit zehn Jahren das Festival im Seebad Pärnu, das in anderer Form und unter anderem Namen bereits 50 Jahre besteht, und von seinem Vater Neeme gegründet wurde.

Die Järvi-Familie verbrachte stets ihre Sommer in Pärnu, bevor sie 1980 in die USA emigrierte. Doch Pärnu blieb ein Sehnsuchtsort, und so trifft sich der ganze Järvi-Clan jeden Sommer wieder dort. Vater Neeme steckt dieses Jahr in Florida fest, wird aber unter stürmischen Sympathie-Bekundungen im überwiegend estnischen Publikum beim Galakonzert am zweiten Festivaltag per Video zugeschaltet. Sichtlich bewegt und zugleich mit dem Järvi-typischen Schalk spricht er über die wechselvolle Geschichte des Festivals.

Paavo Järvi hatte lange geschwankt: „Es ging Schritt für Schritt. Wir hörten uns um in der Welt, alle sagten ab und die Dinge verschlimmerten sich. Wir hatten tägliche Meetings: Was sagt der Gesundheitsminister, wie sind die Prognosen der Regierung?“

Ein tägliches Ringen

Die Dinge entwickelten sich äußerst günstig, zur Festivalzeit soll es nur sechs Infizierte in ganz Estland geben. Die Konzerte und der sonstige Festivalbetrieb mit dem Dirigierkurs und Klassen für Instrumentalisten und Kammermusik laufen scheinbar normal.

Tatsächlich aber ist es ein tägliches Ringen, erzählt Paavo: „Das Problem ist natürlich, dass wir ein internationales Festival sind. Wir hatten plötzlich keine Harfe! Eine unserer liebsten Freundinnen ist Jana Bushkova, die große Harfenistin vom Tschech Philharmonic Orchestra. Sie ist immer hier. Aber nun konnte sie nicht kommen, denn ganz kurz vor dem Festival gingen die Zahlen in Tschechien hoch. Dann gingen die Zahlen in Luxemburg hoch. Deshalb musste eine Solistin, die dort lebt, erst zwei Wochen in Deutschland sein, um herkommen zu dürfen. Denn Deutschland ist erlaubt, Luxemburg nicht. Also, es ist noch immer ein tägliches Glücksspiel.“

Alles geht ineinander über

Im Estonian Festival Orchestra sitzen Spitzenmusiker aus der ganzen Welt, die Paavo Järvi selbst rekrutiert. Es sind aber auch viele junge Musiker vor Ort, die ein Orchester bilden, das ständig den Absolventen der Dirigier-Akademie zur Verfügung steht. Einer der Absolventen des Dirigierkurses ist der Solohornist der Berliner Philharmoniker Stefan Dohr.

Corona bescherte ihm viel Zeit im sonst stets dicht verplanten Sommer: „Da hab' ich gedacht, jetzt kann ich das endlich mal machen! Ich strebe keine Dirigentenkarriere an, aber so gelange ich zu einem besseren Verständnis für alles, was so im Orchester passiert, und ich brauche es auch für Bläserproben und Satzproben.“ Im Kurs spielt er aber auch selbst Horn als Solist von Mozarts 3. Hornkonzert.

So geht in Pärnu alles ineinander über: Unterrichten, Musizieren, Zuhören, Kurse besuchen, Konzerte, Coachings. Paavo Järvi und sein jüngerer Bruder Kristjan leiten den Dirigierkurs, bei den abendlichen Konzerten steht vor allem Paavo am Pult. Ein strammes Programm, das aber laut Paavo „der einfache Teil“ dieser Zeit in Pärnu ist: „Bei einem normalen Orchester geht man nach der Probe nach Hause. Hier gehen alle bis drei Uhr morgens ins Café Passion und diskutieren.“

Besonderer Geist der Kommunikation

Das Festival atmet einen besonderen Geist der Kommunikation und einer gewissen Ausgelassenheit, die selbst im Pandemie-Jahr ungebrochen ist. Pärnu war schon zu Sowjet-Zeiten ein besonderer Ort, eine Enklave, in der sich systemkritische Musiker und Intellektuelle trafen.

Paavo Järvi erinnert sich, dass es in der Sowjetunion zwei beliebte Möglichkeiten gab, Sommerferien zu machen. Die meisten zog es ans Schwarze Meer. „Die anderen zogen eine Umgebung vor, die kulturell näher an Europa ist, und kamen nach Estland. Hier hat man nie den Kontakt zur Alten Welt verloren, zur Welt außerhalb der Sowjetunion. Und es gab hier immer Musik. Zudem war man hier ein bisschen abgeschirmt vor den Scheinwerfern des KGB."

Am beglückendsten sind die Konzerte, bei denen Paavo Järvi Beethoven dirigiert: Die 1. Sinfonie und das 1. Klavierkonzert klingen in transparentem, federndem Parlando, pointenreich und ungemein geistreich. Järvi versteht es, Beethoven gestisch zu schärfen und zu verdichten, ohne ihn immer nur auf Krawall zu bürsten, wie es derzeit Mode ist. „Alles ist Kammermusik“, untertreibt er lapidar seine souveräne Gestaltung.

Regine Müller

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