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Kultur: EU-Verfassung: Neuland

Ein Talent für öffentlichkeitswirksame Auftritte kann man der deutschen Verbraucherschutzministerin Renate Künast nicht absprechen. Beim Treffen mit ihren EU-Amtskollegen im schwedischen Jämtland waren es einmal nicht Rollerblades, sondern ein Sulky, der ihr als Fortbewegungsmittel diente.

Ein Talent für öffentlichkeitswirksame Auftritte kann man der deutschen Verbraucherschutzministerin Renate Künast nicht absprechen. Beim Treffen mit ihren EU-Amtskollegen im schwedischen Jämtland waren es einmal nicht Rollerblades, sondern ein Sulky, der ihr als Fortbewegungsmittel diente. Als einen "neuen Job" könne sie sich das Jockey-Dasein vorstellen, scherzte Künast beim Termin in der Reitschule, der den EU-Agrarrat kürzlich auflockerte.

Ein anderer Job dürfte Künast derzeit weniger Freude machen - der der Briefträgerin. Wenn die Verbraucherministerin im Kreis der EU-Kollegen gegen flächendeckende Vorsorgeimpfungen gegen die Maul- und Klauenseuche zu Felde zieht, dann trägt sie einen entsprechenden Mehrheitsbeschluss der Landwirtschaftsminister der 16 deutschen Bundesländern vor. In der Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik haben die Ressortchefs aus den deutschen Ländern erhebliche Mitspracherechte. Überall dort, wo die Länder im Berliner Bundesrat etwas zu sagen haben, sichert ihnen das Grundgesetz auch Mitspracherechte in Brüssel zu. Die Zahl der deutschen 400 000 Rinder, die für das BSE-Vernichtungsprogramm vorgesehen waren - sie kam auch unter Beteiligung der Bundesländer zu Stande. Und wenn sich die nordrhein-westfälische Ministerin Bärbel Höhn unter den Landwirtschaftsministern der Bundesländer mit ihrer Forderung nach MKS-Schutzimpfungen durchsetzen würde, müsste die Berliner Ministerin Künast dies bei ihren Verhandlungen in Brüssel auch berücksichtigen.

Seit dem EU-Gipfel in Nizza im vergangenen Dezember verfügen die Länder noch über einen anderen Hebel in Europa: In Nizza hat Kanzler Schröder sein Versprechen an die Bundesländer eingelöst, für das Jahr 2004 eine weitere Regierungskonferenz festzuschreiben. Im Post-Nizza-Prozess werden die Bundesländer darauf dringen, sich Kompetenzen zu sichern. Zwar hat der deutsche Föderalismus in der EU eine Art Sonderstellung, weshalb sich auch die deutschen Bundesländer in Brüssel stärker in die Bresche werfen als andere Regionen Europas. Aber nicht nur die deutschen Länder haben ein Interesse daran, dass im Geflecht der europäischen Institutionen mehr Klarheit herrscht. Vielen Bürgern ist die schleichende Erosion der Macht Richtung Brüssel unheimlich. Frankreichs Staatspräsident Chirac warf im Juni 2000 im Reichstag die entscheidende Frage auf: Wer macht künftig was? Auch wenn Chirac in Reden hin und wieder dafür plädiert, Europa solle in der Welt "mit Macht" auftreten, so gehört Frankreichs Staatschef doch zu den Fürsprechern eines "Europa der Nationen". Ein solches "Europa der Nationen" würde allen weiteren Einigungsbemühungen enge Grenzen setzen. In das Lager der "Föderalisten", die sich dagegen eine weitere Kompetenzverlagerung Richtung Brüssel vorstellen können, gehören Außenminister Joschka Fischer und Bundespräsident Johannes Rau. Mit ihren Reden haben die beiden Klarheit über den EU-Einigungsprozess vermitteln wollen. Allerdings ist weder für die Entscheidungsträger noch für die Wähler das Ziel dieses Prozesses, das im Euro-Jargon mit "Finalität" umschrieben wird, absehbar.

Doch genau da liegt der Haken der Debatte über die Kompetenzabgrenzung und eine europäische Verfassung. Denn ein politischer Wille, einer europäischen Föderation auch wirklich Leben einzuhauchen, ist derzeit kaum erkennbar. 2002 werden wir alle den Euro in Händen halten, und dann? Der britische Premierminister Tony Blair arbeitet derzeit in erster Linie am Projekt seiner Wiederwahl. Auch Schröder und Jospin, die wiedergewählt werden wollen, werden die Wähler wohl kaum mit der Vision einer europäischen Föderation überfordern wollen.

Allein schon Briten, Franzosen und Deutsche haben keine gemeinsame Vorstellung von der künftigen Gestalt der EU. So liegen Welten zwischen Fischers Föderations-Idee und Blairs Europa-Visionen. Sicher sprechen die Berater des britischen Regierungschefs - ähnlich wie Fischer - von einer zweiten Kammer auf europäischer Ebene. Darin sollen aber nach Vorstellung der Briten Abgeordnete der nationalen Parlamente sitzen - was faktisch zu einem Bedeutungsverlust des seit 1979 direkt gewählten Europaparlamentes führen würde. Manchmal ist der Fortschritt nicht nur eine Schnecke, sondern auch ein Schritt zurück.

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