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Kultur: Europas wilder Südosten

Kunst aus dem Balkan: eine Ausstellung in Kassel

Das beeindruckendste Kunstwerk der Ausstellung ist ein mannshoher, tonnenschwerer Pilz aus bröckelndem Stahlbeton. Zehntausende solcher Mini-Bunker ließ Albaniens paranoider Diktator Enver Hodscha in seinem Land aufstellen, um es gegen imaginäre Eindringlinge verteidigen zu können. Eines dieser hässlichen Ungetüme hat der türkische Künstler Hüseyin Alptekin kommentarlos vor dem Museum Fridericianum postiert.

Das Bewusstsein für die radikale Andersartigkeit dieser Region droht verloren zu gehen. Zwar suggeriert Kurator René Block eine Entdeckungsreise: Der Titel „In den Schluchten des Balkan“ ist einem Karl-May-Roman entlehnt, im Untertitel nennt er sie „eine Reportage“. Doch zu entdecken gibt es wenig. Die Mehrzahl der 88 Teilnehmer waren schon bei den letzten Großausstellungen über die Region dabei: Bei „Blut und Honig“ in der Sammlung Essl bei Wien (Tagesspiegel v. 10. Juni) , bei „In search of Balkania“ in Graz 2002 oder beim Osteuropa-Überblick „After the wall“, der 2000 auch in Berlin Station machte. Schließlich ist der verwendete Balkan-Begriff recht willkürlich. Block zählt Griechenland und die Türkei dazu, klammert Moldawien jedoch aus. Dagegen behandelt er nicht nur alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens, sondern auch Montenegro und den Kosovo separat.

Das heißt nicht, dass in Kassel keine bemerkenswerten Werke gezeigt würden. Im Gegenteil: Verblüffend schnell hat sich eine junge Künstlergeneration binnen eines Jahrzehnts jede Technik angeeignet, die auch im Westen en vogue ist. Digiprints, Videos, Mixed Media, Netzkunst, interaktive Software – alles da. Dazu sämtliche ironisch-subversiven Strategien, die die Postmoderne so bunt und beliebig machen: Pseudo-Produkte, Fake-Werbekampagnen und Polit-Simulationen neben ernst gemeintem sozialen Engagement, das sich als Kunst tarnt. Das macht die Mammutschau leicht goutierbar.

Cosmin Gradinarus pittoreske Aufnahmen rumänischer Roma, die Autowracks auf Pferdekarren transportieren, amüsieren – solange man nicht weiß, dass diese Verarmten ihr Brot mit Altmetallsammeln verdienen. Gentian Shkurtis Videogame „Go west“ gibt sich als sinnfreies Ballerspiel – dabei feuert man als albanischer Flüchtling auf italienische Küstenwachschiffe. Mircea Cantors Sammlung von Witzen über Ceaucescu sprüht sicher vor rabenschwarzem Humor – leider ist sie nur auf Rumänisch abgedruckt. Merita Harxhi-Kocis Reklamespot für eine Phantasiepartei sieht sehr professionell aus – es erschreckt aber, wie bedenkenlos Kosovaren ihrer angeblichen Führerin zujubeln.

Selten wird der culture clash so offenkundig wie im Kurzfilm der beiden Kurden Sener Özmen und Erkan Özgen, die im Smoking auf Eseln durch die Steinwüste Anatoliens reiten und den Nächstbesten fragen, „wo es zur Tate Modern Gallery geht“. Der weist ihnen bestimmt – „da entlang!“ – den Weg. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken: Diese Künstler scheinen fast alles über unsere Welt zu wissen, und wir nahezu nichts über ihre. Kulturelle Entwicklungshilfe ist da gefragt. Die will der Kurator auch geben: Ein Teil seines Budgets kommt Kunstprojekten in den Herkunftsländern der Teilnehmer zugute. Hüseyin Alptekin plant ähnliches: Jedes westeuropäische Museum soll seinen Pilzbunker bekommen und im Gegenzug albanischen Kulturzentren Anschauungs- und Lehrmaterial spenden. Doch der Know-how-Transfer wäre in umgekehrter Richtung nötiger.

Museum Fridericianum Kassel, bis 23. November. Mi bis So 11-18 Uhr. Katalog 5 €. Weitere Infos: www.fridericianum-kassel.de

Oliver Heilwagen

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