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European Film Award: Was das aktuelle Kino über den Zustand Europas verrät

Glanz und Glamour hielten sich bei der Filmpreis-Gala in Berlin zwar in Grenzen. Die Liste der Preisträger macht aber Hoffnung - für den europäischen Film und für Europa.

Von seinem Ende her gesehen, wäre der sehr lange Abend gewisslich reif für die TÜV-Mängelliste der alljährlichen Eurofilmpreis-Zeremonien. Colin Firth abwesend, ausgezeichnet für seine Rolle als Stotterkönig in „The King’s Speech“? Na, wer damit bereits den Oscar geholt hat, kann den Europäern wohl die kalte Schulter zeigen. Tilda Swinton ebenfalls abwesend, ausgezeichnet für ihre Rolle als leidende Mutter in Lynne Ramsays „We Need To Talk About Kevin“? Kein Wunder, dass die große Berlinale-Freundin den Weg nach Berlin scheut, zumal ihr in Cannes uraufgeführter Film hierzulande noch nicht einmal einen Verleih hat. Von allerlei anderen Pannen und Pännchen zu schweigen.

Andererseits: Dass ein anderer notorischer Europäischer-Filmpreis-Abwesender – No-Show vor elf Jahren trotz Sieges mit „Dancer in the Dark“, No-Show 2003 in Sachen „Dogville“ – erneut fernbleibt, wird am Sonnabend im Berliner Tempodrom überwiegend mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Zwar findet sich Lars von Trier, wie vielerseits erhofft, mit „Melancholia“ auf dem Cineastenthron des Kontinents wieder. Nicht auszudenken aber, er hätte die feierliche Danksagung mit einer Variante seines in Cannes so fatalen N-Worts gewürzt – und das mitten in der hier seit Wochen tobenden Neonazi-Debatte. Unlängst aber hat sich der genial verrückte Däne bekanntlich ein Schweigegebot auferlegt, und das Gelübde scheint er einstweilen halten zu wollen. Also schickt er seine Frau Bente nach Berlin und lässt sie, wie niedlich, „euch allen zuwinken“.

Wichtig aber ist das alles nicht. All die manöverkritischen Abwägungsfragen – leere Stühle, ja, aber immerhin kein neuer Skandal – treten diesmal in den Hintergrund. Denn es gibt, und das ist das geheime Leitmotiv des Abends, paradoxerweise etwas zu feiern, das man jedes Jahr feiern könnte, nur hat man es bislang aus lauter Läster-Luxus nicht getan: Dass es die European Film Academy (EFA) mit ihren 2500 Künstler-Mitgliedern überhaupt gibt. So, wie man heute genauso gut feiern könnte, dass es dieses Europa überhaupt – noch – gibt. Wenn nun manche Promis unter den Schauspielern und Regisseuren ihre Academy so offenkundig links liegen lassen: Spiegelt das nicht passend die seltsam überständige Nonchalance, mit der auch die Europäer selber auf ihren Kontinent blicken?

Tatsächlich hat Wim Wenders, EFA-Präsident seit 15 Jahren, unbedingt recht, wenn er nur wenige Tage vor dem erneuten EU-Rettungsgipfel den Politikern eindringlich zuruft, sich „wenigstens einmal“ das Academy-Modell der „Solidarität und Demokratie“ zu eigen zu machen. Und wenn Kulturstaatsminister Neumann darauf hinweist, Europa sei „mehr als Ökonomie“, und es sei eben Europas Kultur, die „unsere Identität“ ausmache, so klingt das aus seinem Munde zwar stets etwas bräsig-wochenendfeierlich, ist deshalb aber nicht weniger wahr. Ja, je heftiger die ökonomische Stabilität des Kontinents kaputtzugehen droht, desto spürbarer werden Werte, für deren aufmerksame Verteidigung es sich zu kämpfen lohnt.

Wie das Kino den Zustand des Kontinents wiedergibt.

Die Filme Europas und ihre Verbreitung über Sprachgrenzen hinweg sind so ein Wert. Diesmal ganz besonders: 2011 ist ein herausragender Jahrgang, und seinen Besten haben die EFA-Mitglieder salomonisch ihren Segen gegeben. Man darf vielleicht noch weiter gehen: Wenn das Kino mitunter zu recht als Seismograf gesellschaftlicher Strömungen gilt, dann macht dieser europäische Jahrgang vor allem Hoffnung, über das Kino hinaus. Überall in den Filmen sind die Ausgangspunkte düster, die Konflikte und Schicksalsschläge gewaltig, immer aber finden sie, vielleicht nicht zum Happy End, aber in die Beschwörung einer Wärme.

Diese Trost- oder besser: Ermutigungsfunktion lässt sich an den sechs nominierten Filmen auf das Schönste ablesen. Tom Hoopers Oscar- und Kassenhit „The King’s Speech“ zelebriert am Beispiel des britischen Königs George VI., was Hartnäckigkeit, Hilfsbereitschaft und Humor selbst in aussichtslosesten Fällen bewirken können. In Michel Hazanavicius’ wunderbarer Stummfilm-Hommage „The Artist“ (Kinostart: 26. Januar) wird der Karrieresturz des Helden zu Beginn der Tonfilm-Ära auf anrührende, doch durchaus nicht zuckersüße Weise aufgehalten. Und es wirkt nachgerade wie gemeinschaftliche Absicht, dass in den vier weiteren top-nominierten Filmen bedrängte Kinder oder Jugendliche als Hoffnungsträger wirken oder zumindest nicht im Stich gelassen werden.

Da ist der afrikanische Junge in Aki Kaurismäkis „Le Havre“, der von einer Solidargemeinschaft armer Städtebewohner in eine – hoffentlich – bessere Zukunft hinübergerettet wird. Oder das verrohte Heimkind in „Der Junge mit dem Fahrrad“ (Kinostart: 9. Februar) von JeanPierre und Luc Dardenne, das seinen Vater gänzlich zu verlieren droht und mitten im intergenerationellen Kriegszustand eine Art Mutter findet. Der internationale Titel „In A Better World“ von Susanne Biers Oscar-Erfolg „Hævnen“ wiederum enthält schon programmatisch jene Hoffnung, die der Film dann am Beispiel einer schmerzhaft fragmentierten Familienaufstellung erzählt. Und in Lars von Triers meisterlich visionärem „Melancholia“ mag die Welt zwar untergehen, aber am Ende rücken die von Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg gespielten Schwestern – mit Kind! – in einem unvergesslichen Bild zusammen.

All diese packenden Filme setzen ihr Emotionspotential wuchtig ein; aber sie machen es nicht zu ihrem alleinigen Ziel, wobei sich die Handschriften vom feinen Strich Aki Kaurismäkis bis zu den kräftig geschwungenen Linien Susanne Biers deutlich unterscheiden. Sie sind durchweg im besten Sinne unterhaltsam, aber zugleich geht es in ihnen um mehr als das – um die globale Migration, um das Schicksal elternloser Kinder, Neurose, gesellschaftliche Störungen und private Verstörungen. Sie verführen den Zuschauer, sich und seine Welt besser zu verstehen. Sie sind kompliziert, vielschichtig, stark. Also im besten Sinne: europäisch.

Den Bewusstseinsschub der Gemeinsamkeit, der allein aus der Besichtigung dieser europäischen Filme resultiert, möchte man auch den EU-Gipfelfunktionären wünschen. Volker Schlöndorff ist es dann, der im Tempodrom ausdrücklich zur so überfälligen wie unabwendbaren Gründung der Vereinigten Staaten von Europa Mut macht, indem er das Beispiel der USA anführt: „Erst kam der Dollar, dann die Steuerunion, dann die politische Einheit.“ Und er erzählt von einem Besuch unlängst bei polnischen Studenten, wo ihm statt üblicher Verzagtheit pure Zukunftslust und europäischer Enthusiasmus entgegengeschlagen sei.

So mitten in hochaktuellen Zusammenhängen, so fühlbar Vorreiter einer Entwicklung größeren Maßstabs war die European Film Academy wohl noch nie. Schöne Gelegenheit, sich bei den anwesenden Stars in einer Spontan-Umfrage nach ihrem Begriff von Europa zu erkundigen – Antwort bitte in einem Satz. Stellan Skarsgård (Schweden): „Ein Schmelztigel von enormem Reichtum, aber leider pleite!“ Karl Markovic (Österreich): „Ein sinnlicher, ein kreativer Kontinent – und um jedes Eck ein neues Land!“ Katja Riemann: „Ich bin erst Europäerin, dann Deutsche.“ Ulrich Thomsen (Dänemark): „Ich mag die Vielfalt, aber bitte keine politische Union!“ Ludivine Sagnier (Frankreich): „So ein reiches Dorf, und es kapiert seinen eigenen Reichtum nicht!“ Moritz Bleibtreu: „Mein Zuhause.“ Und Ulrich Matthes: „Klapprige Fensterläden“, sagt er lachend, und: „Das Glück, wenn ich in den USA war, nach Europa zurückzukommen.“

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