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Mit Gott auf ihrer Seite? Dass die Deutschen hoffnungsfroh in den Krieg zogen, wurde von den Kirchen unterstützt.

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Evangelische Kirchen anno 1914: Fanatiker auf der Kanzel

Kriegspredigten, geistige Mobilmachung, der Kampf als Strafgericht Gottes: Als die Deutschen im Sommer 1914 in den Krieg zogen, gingen die Hof- und Domprediger des Berliner Doms einer kriegerischen Kirche voran.

Die patriotische Kriegseuphorie, die viele Deutsche im Spätsommer 1914 ergriff, war von religiöser Hochstimmung begleitet. In den Kirchen deutete man das erhebende Gemeinschaftserlebnis des August als Anbruch einer neuen Zeit. Der Krieg im protestantisch-preußischen Königreich wurde in den evangelischen Kirchen (und kaum minder bei den Katholiken) freudig begrüßt, mit viel Pathos religiös überhöht und auf fragwürdige Weise theologisch gerechtfertigt. Allenthalben war von einem „heiligen Krieg“ oder „Kreuzzug“ der christlichen Deutschen gegen eine Welt von Feinden, „Gottlosen“ und Barbaren die Rede. Evangelische Pfarrer, Professoren und Publizisten deuteten die historische Stunde als „Fingerzeig Gottes“, als Rückkehr eines von Unglauben bedrohten Volkes zu Gott.

Die Leitung der großen preußischen Landeskirche verkündete zu Kriegsbeginn: „Mit hoher Freude sehen alle, die unser Volk lieb haben, wie unter der Not des mit ungeheurem Frevelmut uns aufgezwungenen Kriegs das religiöse Bedürfnis in unseren Gemeinden erwacht. Gotteshäuser und Gottesdienste füllen sich. Scheinbar erstorbene Glaubensfunken leuchten wieder auf.“ Berichte aus den ersten Kriegswochen scheinen eine solche Erwartung zu bestätigen. Anlässlich eines vom Kaiser angeordneten Kriegsbettages am 5. August, heißt es aus Friedenau, hätten die Menschen die Kirche geradezu gestürmt. „5 Gottesdienste haben wir gehalten. Als die Kirche um 10 Uhr gefüllt war, holten Gemeindeglieder die nicht beschäftigten Pastoren aus ihrer Studierstube, und im Nu waren der Gemeindesaal besetzt und die Treppen, dann musste der Jünglingssaal aufgeschlossen werden ...“ Abendmahlfeiern seien verlangt worden, wenn der plötzliche Befehl zum Ausmarsch kam. Viele junge Paare begehrten die Kriegstrauung.

Mit all ihren moralischen wie materiellen Ressourcen stellten sich die Kirchen in den Dienst des Krieges, von „geistlicher Mobilmachung“ war die Rede. Gemeinden waren durch Zeichnung von Kriegsanleihen mit hohen Summen an der Kriegsfinanzierung beteiligt, auch gab man Kirchenglocken zu Kriegszwecken. 172 Berliner Pfarrer protestierten in einer Petition gegen den Ausschluss der Geistlichen vom Waffendienst, sie sahen darin eine ehrverletzende Zurücksetzung gegenüber anderen Berufsständen. In der Regel kamen jedoch nur junge Theologen zum Fronteinsatz mit der Waffe. Amtierende Pfarrer verblieben im geistlichen Dienst an der „Heimatfront“, 1 400 evangelische Theologen dienten als Feldgeistliche.

"Wir Germanen" als Nachfolger des Heilands

Zentrales Medium waren die Kriegspredigten. Häufig wurde dabei der „Geist der Befreiungskriege“ von 1813 gegen die napoleonische Fremdherrschaft beschworen. In ihrem vaterländischen Eifer übersahen die Prediger freilich, dass 1914–1918 kaum deutsche Gebiete von fremden Truppen besetzt waren, sondern die wesentlichen Kriegsschauplätze außerhalb der Reichsgrenzen lagen. Als Avantgarde gingen Hof- und Domprediger vom Berliner Dom voran. Bereits am 2. August 1914 gab der junge Bruno Doehring in einer improvisierten Ansprache von den Stufen des Reichstagsgebäudes den martialischen Ton vor: Wir Deutsche stünden nun in einem gerechten Verteidigungskrieg, hervorgerufen durch eine Verschwörung der Feinde ringsum. Gott rufe unseren Kaiser und mit ihm alle Deutschen zum heiligen Krieg. Oberhof- und Domprediger Ernst von Dryander machte sich von der Kanzel für deutsche Kultur und gegen die Unkultur der Feinde stark. Friedrich Lahusen, Generalsuperintendent von Berlin und Pfarrer an Schleiermachers traditionsreicher Dreifaltigkeitskirche, schrieb an seinen Sohn: „Wenn Russland Gott ruft, so ist das Gotteslästerung. Wir können es tun.“ Am 5. August verkündete er, Gott habe „uns Germanen“ in die Nachfolge des Heilands gerufen.

Ludwig Wessel, Pfarrer an der Nikolaikirche, war als Feldgeistlicher unterwegs. Auf seinen Streifzügen im besetzten Belgien schwärmte er von der Würde und Schönheit des Krieges und der Kraft deutscher Waffentechniken. Er plädierte für eine Annektion des Landes, seien doch die Flamen den Deutschen stammverwandt. Im Blick auf östliche Kriegsschauplätze forderte er die Einverleibung Litauens und weiterer Ostgebiete als Dammland gegen die „slawische Überflutung“.

Der Sakralisierung der kriegerischen Mission der Deutschen entsprach die drastische Dämonisierung der Kriegsgegner. „Wortbrüchige Treulosigkeit des Zaren“, „Frankreichs blindwütiger Hass“, „des englischen Krämervolks heuchlerische Moral“, „japanisches Asiatenpack“ – so las man bei Pfarrer Wessel. Domprediger Doehring eiferte gegen die „infame Treulosigkeit Italiens“, den „tierischen Beutehunger Rumäniens“ und die „hirnverbrannte Verlogenheit der amerikanischen Dollarkönige“.

In den Kirchen der Alliierten tönte es nicht viel anders.

Superintendent Wilhelm Philipps, seit 1917 Leiter der Berliner Stadtmission, hatte bereits zu Kriegsbeginn verkündet, ein Strafgericht Gottes an den Völkern zu vollziehen. Im Januar 1918 präzisierte er seinen Aufruf zu einem Feldzug: gegen Belgien „wegen seiner Liederlichkeit und seiner Kongogreuel“, gegen Frankreich „wegen seiner Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit“, gegen „Serbien als Räuber- und Banditenstaat“, gegen „Russland wegen seiner Korruption ohnegleichen“ und so fort. Leider, bedauerte Philipps, seien weite Kreise lange nicht bereit gewesen, alle Waffen wie Zeppeline, U-Boote oder giftige Gase uneingeschränkt anzuwenden. Sentimentalität, Kulturseligkeit und demokratische Neigungen hätten sich breitgemacht. Am Ende werde sich jedoch Gottes Willen durchsetzen – und Deutschland werde sein Vollstrecker sein.

In den Kirchen der alliierten Kriegsgegner tönte es nicht viel anders. Allenthalben hatte in den kriegführenden Nationen Europas die neue politische Religion eines radikalen Nationalismus über substanzielle Gebote des Christentums wie etwa das der entschiedenen Friedensliebe gesiegt. Herabwürdigungen und Dämonisierung geschahen wechselseitig. Der englische Bischof John Percival, zuvor noch heftiger Opponent des britischen Burenkriegs, sprach 1915 von Großbritannien und seinen Alliierten als den auserwählten Mächten, um die christliche Zivilisation Europas vor der Überwältigung durch ein brutales, hochgerüstetes Heidentum zu retten. Der US-Massenprediger William „Billy“ Sunday verbreitete bei Kriegseintritt der USA 1917: Wenn man in der Hölle das Unterste nach oben kehre, sei auf dem Boden der Stempel „Made in Germany“ zu finden. Und der Rektor der Syracuse University, ein Theologe, verkündete seinen Studenten, es wäre doch ein Segen, wenn man das beast of Berlin Gott übergeben könnte.

Das Recht zum heiligen Zorn

Die wenigen friedensliebenden Stimmen aus der Kirche hatten es schwer. Im Oktober 1917 sprachen sich fünf Berliner Pfarrer in einer Erklärung dafür aus, im Namen des Christentums jeglichen Krieg als Mittel der Auseinandersetzung unter den Völkern zu ächten und für den Frieden zu kämpfen. Die scharfe Gegenerklärung, unterschrieben von etwa 160 Hauptstadtpfarrern: „Es gibt nur zweierlei für das deutsche Volk: Sieg oder Untergang! Wenn wir erst den Sieg errungen haben, wird es an der Zeit sein, den Engländern und Franzosen unsere Bereitschaft zur Versöhnung kundzutun ... Einstweilen haben wir noch ein Recht zum heiligen Zorn. Dieses Recht haben uns die Feinde vor Gott und den Menschen in vollem Maße gegeben.“ Das war der Geist der bellizistischen „Deutschen Vaterlandspartei“, deren Programm zum Durchhalten bis zum deutschen Siegfrieden aufforderte.

Gegen Kriegsende, die unfassbare Niederlage vor Augen, fragten viele Geistliche und Kirchenbesucher, wie Gott „so etwas“ habe zulassen können. Aus der Friedenauer Gemeinde „Zum Guten Hirten“, wo der Andrang 1914 so groß gewesen war, berichtete ein Pfarrer von schweren inneren Predigthemmungen. Die immer wieder gestellte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Kriegsausgangs sei nicht leicht zu beantworten gewesen. Domprediger Doehring, durch seine fanatischen Kriegspredigten zu einem der prominentesten Kanzelredner Berlins aufgestiegen, beklagte die Übermacht der Feinde; am Ende seien noch Heimtücke und Verrat im Inneren hinzugekommen. Eine Wiederauferstehung der Deutschen, meinte der Pfarrer, könne nur durch Rückbezug auf innerste Werte geschehen, auf die Wurzeln wahren Deutschtums.

Manfred Gailus lehrt Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Manfred Gailus

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