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Keimzelle des Wahns. E. L. Kirchners „Interieur“ (1915).

© Pinakothek der Moderne, München

Expressionismus: "Du musst Caligari werden!"

Überschneidung von Kunst und Leben, von Wahn und Wirklichkeit: Eine monumentale Schau in Darmstadt feiert den Expressionismus als Gesamtkunstwerk.

Im Dezember 1925 erlebte Alban Bergs „Wozzeck“ seine Uraufführung an der Berliner Lindenoper. Wozzecks klagender Ausruf „Wir arme Leut’!“ bündelt das Pathos des Expressionismus wie in einem Brennglas. Dabei geht in jenem Jahr die Ära dieser Kunstrichtung bereits zu Ende. Mit der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ in Mannheim ist das Signum der kommenden Jahre gefunden, während der Expressionismus zum Dekorationsstil für wohlhabende Kaufleute verflacht.

1925 erscheint auch der erste Band von Hitlers Pamphlet „Mein Kampf“. In der Ausstellung „Gesamtkunstwerk Expressionismus“, in der die Darmstädter Mathildenhöhe die vielfältigen Aspekte dieser künstlerischen Strömung zu bündeln sucht, liegt ein Exemplar wie beiläufig in der letzten Vitrine. Nach dem Rundgang begreift der Besucher allerdings, wie sehr Hitlers Buch auch – auch! – ein Produkt seiner Zeit und ihrer Kunst ist.

Ralf Beil, Direktor des für seine kulturhistorischen Ausstellungen berühmten Instituts Mathildenhöhe, greift damit eine Fährte auf, den Siegfried Kracauer 1947 in seiner Untersuchung „Von Caligari zu Hitler“ gelegt hatte. Kracauer sieht eine spezifische deutsche Neigung zum Pathologischen wie zur obrigkeitlichen Tyrannei, die im Stummfilm zum Ausdruck kommt. Die Ausstellung rückt folgerichtig den Film in den Mittelpunkt – etwa mit dem gezackten Bühnenbau, der die Rampen aus Robert Wienes 1920 gedrehtem Klassiker „Das Kabinett des Dr. Caligari“ nachempfindet. Dass dazu Paul Hindemiths Musik zu Oskar Kokoschkas „Mörder, Hoffnung der Frauen“ zu hören ist, belegt den Gleichklang der Kunstgattungen in den Jahren nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg.

Der Expressionismus wird meist mit seiner stürmischen Blüte vor Ausbruch des Krieges gleichgesetzt – mit der Dresden-Berliner Künstlergemeinschaft Brücke, mit dem „Blauen Reiter“ in München, der Lyrik eines Jakob von Hoddis und den frühen Erzählungen von Sternheim oder Döblin. Die Nachkriegszeit wird als epigonal, als Aufgeregtheit aus zweiter Hand wahrgenommen. Darmstadt hingegen zeigt, dass der Expressionismus nur in der Gesamtheit seiner Äußerungen in Kunst, Architektur, Musik, Literatur und vor allem dem Film verstanden werden kann.

Eine Gesellschaft, die an sich irre geworden ist, macht den Irrsinn, den Defekt, das Abgründige zum Gegenstand ihrer kulturellen Hervorbringungen. Aus der Kriegsniederlage erwächst die Revolution, die erstickt und ermordet wird; es bleiben Hunger, Verzweiflung, die Besetzung des Ruhrgebiets und eine Hyperinflation, die nach der Arbeiterklasse nun auch den Mittelstand verarmen lässt. Es folgen der Tanz auf dem Vulkan, der Massenkonsum von Morphium und Kokain, Anita Berber und Sebastian Droste, die 1923 ihre „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ vollführen. Es ist feine Ironie, dass die Ausstellung in der Stadt der Pharmafirma Dr. Merck stattfindet, die die seinerzeit legalen Drogen herstellt. „Komm, holder Schnee!“, dichtet Walter Rheiner, Autor von „Kokain“, der sich 1925 im Drogenrausch aus dem Fenster stürzt.

All das wäre kaum ohne die suggestive Wirkung des Films zum Massenphänomen der frühen Weimarer Republik geworden. Paul Wegener drehte 1920 „Der Golem, wie er in die Welt kam“, in den Dekorationen von Hans Poelzig. Der Architekt hatte 1919 mit dem Großen Schauspielhaus in Berlin eine gipserne Tropfsteinhöhle für Max Reinhardts Vision eines „Theaters der Fünftausend“ modelliert. Fritz Lang, ursprünglich für die Regie des „Caligari“ vorgesehen, folgt 1921/22 mit dem Zweiteiler „Dr. Mabuse, der Spieler“, 1922 kommt auch F.W. Murnaus „Nosferatu“ auf die Leinwand. Eine Unzahl weiterer Stummfilme variiert die düsteren Themen.

In der Darmstädter Übersicht wird deutlich, wie nahe sich das Drama – etwa die Zeitstücke Ernst Tollers – und der Film oder auch die bildende Kunst und die Publizistik waren, und eben auch Politik und Massenpsychose. Den Expressionismus im Ausstellungstitel als Gesamtkunstwerk zu bezeichnen, erweist sich als gewinnbringende Hypothese, sofern man die Überschneidung von Kunst und Leben, von Wahn und Wirklichkeit im Blick behält, wie sie die frühen zwanziger Jahre kennzeichnet. War der vorangehende Jugendstil von hochgestimmtem Kunstwollen geprägt, so der Expressionismus vom skeptischen Verlangen nach unverfälschter Wirklichkeit. Seismografisch wie kaum je eine Kunstrichtung hat er der Verstörung einer ganzen Gesellschaft Bild und Ausdruck verliehen.

„Der Expressionismus ist keine Mode. Er ist eine Weltanschauung“, hatte Herwarth Walden, der rastlose Begründer von Galerie und Zeitschrift „Der Sturm“ in Berlin, 1919 proklamiert: „Und zwar eine Anschauung der Sinne, nicht der Begriffe.“ Dieser irrationale Grundzug, der jedenfalls nach dem Krieg weniger auf Befreiung denn auf Entfesselung zielte, weniger auf Dionysisches denn auf Dämonisches, wird durch die Vielzahl der gezeigte Werke und Objekte eindrucksvoll unterstrichen.

Im erhaltenen Atelierdekor Ernst Ludwig Kirchners von 1914/15, das den Auftakt der Ausstellung markiert und bislang eher als Illustration heiterer Weltflucht des jungen Künstlers gedeutet wurde, scheint bereits die wahnhafte Verzerrung späterer Filmdekors auf. Ein Schlüsselbild des Malers wie das „Interieur“ von 1915, scheinbar ein Familienidyll vorstellend, wird zum klaustrophobischen Spiegelbild einer ruhelosen Seele.

Ebenso wird die Musik von Hindemith und Schönberg, die die Ausstellung begleitet, zur unverständlichen Kakophonie. Der Dichter Ernst Toller wird steckbrieflich gesucht, er landet im Gefängnis wie wenige Jahre später, nur sehr viel komfortabler, der „böhmische Gefreite“ Hitler. Solche Nähe wird in der Ausstellung allenfalls angedeutet; und doch ist sie immerzu gewärtig. George Grosz karikiert und verherrlicht Mörder und Dirnen; und wenn der Film „Die Prostitution“ als „sozialhygienisches Filmwerk“ angekündigt wird, konnte sich der damalige Betrachter des Werbeplakats sehr genau vorstellen, was ihn im Marmorhaus am Ku’damm erwartete. Nichts mehr ist real in einer Gesellschaft, deren Fundament in den Schützengräben Flanderns zerschossen worden ist; auch das macht die Ausstellung immer wieder bewusst. „Expressionismus ist Spielerei“, heißt es in „Dr. Mabuse, der Spieler“: „Aber warum auch nicht? Alles ist heute Spielerei!“ Immer wieder laufen die Stränge der Ausstellung auf den Film zu, der, obwohl nur schwarz-weiß, doch farbiger ist als alle Malerei, und obwohl stumm, doch beredter als jeder Roman.

„Du musst Caligari werden!“, lautete der suggestive Spruch, mit dem für den Film Reklame gemacht wurde, bevor dem Publikum klar war, dass es sich um einen Film handelt und nicht um die Botschaft einer obskuren Sekte. Dieser Imperativ des „Du musst“ durchzieht den Expressionismus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wie Marionetten reagierten Künstler und Publikum, bis ab 1925 die Neue Sachlichkeit dazwischentrat – und Hitler mit „Mein Kampf“ bereits den Keim des Untergangs legte, eines Untergangs, der die schlimmsten Alpträume des Expressionismus weit in den Schatten stellen sollte.

Darmstadt, Mathildenhöhe, bis 13. Februar. Katalog im Großformat, 512 S., 45 €, im Buchhandel 58 €. Hörbuch mit CD, dt. oder engl., 16,80 €. Beide im Verlag Hatje Cantz. – Infos : www.mathildenhöhe.eu

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