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Fabrizio Gatti: Undercover auf der Flüchtlingsroute

In „Bilal“ berichtet Fabrizio Gatti, wie er sich auf die „Sklavenpiste“ begeben hat, auf der viele aus West- und Mittelafrika stammende afrikanische Flüchtlinge unterwegs sind, um später das Mittelmeer auf einer lebensgefährlichen Bootstour zu überqueren und ins vermeintlich gelobte Europa zu kommen.

Es ist erst ein paar Wochen her, da beklagte die Menschenrechtsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ die menschenunwürdigen Bedingungen in italienischen Flüchtlingslagern. Häufig fehle es dort an Seife und Kleidung, die medizinische Versorgung sei unzureichend, und die Lager erinnerten an Gefängnisse, wiewohl fast die Hälfte der Insassen Opfer vom Menschenhandel seien. Das italienische Innenministerium wies die Vorwürfe zurück und unterstellte den Helfern von „Ärzte ohne Grenzen“, dass diese ausschließlich ideologische Positionen vertreten würden, „deren Inhalt fast nie mit den Tatsachen übereinstimmen“.

Dass die Organisation recht hat, belegt ein Buch, das 2007 in Italien veröffentlicht wurde und jetzt auch auf Deutsch vorliegt: „Bilal“ von Fabrizio Gatti. Darin berichtet Gatti, wie er sich auf die „Sklavenpiste“ begeben hat, auf der viele aus West- und Mittelafrika stammende afrikanische Flüchtlinge unterwegs sind, um später das Mittelmeer auf einer lebensgefährlichen Bootstour zu überqueren und ins vermeintlich gelobte Europa zu kommen.

Des Weiteren erzählt Gatti, wie er als türkisch-kurdischer Flüchtling namens Bilal in das Auffanglager auf die vor Sizilien vorgelagerten und zu Italien gehörenden Mittelmeerinsel Lampedusa gelangt und hier die eher nicht so humanitären Verhältnisse studiert. Gatti ist Reporter beim italienischen „Spiegel“-Pendant „Espresso“. Er recherchierte schon im Drogen- und Mafiamilieu, lebte als Obdachloser unter Obdachlosen und war als illegaler Erntehelfer tätig. Bevor er jedoch als Bilal im Einsatz war, wollte er wissen, warum sich so viele Schwarzafrikaner auf den Weg nach Europa machen und sich Menschenhändlern anvertrauen. Und ob die berüchtigte, in Niger liegende Oase Dirkou, die Flüchtlings-Lkws und die Sklavenroute mehr als eine Legende der Überlebenden sind, die es bis Europa geschafft haben.

Also reist er vom Senegal über Mali nach Niger, trifft Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, unterhält sich mit ihnen über ihre Gründe, porträtiert sie. Der Autogare in Agadez, Niger, ist einer der wichtigsten Umschlagplätze der Schlepper. Hier werden die Fahrkarten für den Transport durch die Sahara verkauft, hier stehen die Geländewagen, Kleinbusse und vor allem die alten Mercedes-Militärlaster mit Sechsradantrieb, die die Flüchtlinge ans Mittelmeer bringen: „Ein solcher Laster braucht bis Dirkou sechs Tonnen Diesel und sechs zurück, so Gott will“, erfährt Gatti von einem jungen Lastenträger in Inter-Mailand-Trikot, „dieser hier wird heute Nacht oder morgen früh starten. In der Regel fahren täglich vier oder fünf Lkws wie dieser. Das sind 15 000 Leute jeden Monat. Das musst du gesehen haben, manchmal fahren Frauen mit so kleinen Kindern mit, dass du dich fragst, wie sie bis ans andere Ende der Wüste kommen sollen.“

Gatti fährt auf einem der LKWs mit und erfährt am eigenen Leib, was die vielen, oft gut ausgebildeten, dem Elend ihrer Dörfer und Städte fliehenden Schwarzafrikaner erleiden müssen: die körperlichen und seelischen Strapazen, die Enge auf den Lkws, tage- und nächtelang. Schlimmer noch sind die Kontrollen durch Polizisten und Soldaten, die den Flüchtlingen Geld abpressen, sie schlagen und foltern. Viele stranden auf der Route in Agadez, Dirkou, Dao Timmi oder Libyen. Sie kommen weder in ihre Heimatländer zurück noch ans Mittelmeer, auf eines der Boote, und verdingen sich als Hausdiener oder Prostituierte. Gatti schildert sie als „lebende Tote“, mit erloschenem Blick, verzweifelt, lethargisch. Trotzdem sind sie für ihn „Helden“, die ihr Leben riskieren, nicht anders als jene, die durchkommen. Er selbst wird gewarnt, nach Libyen zu reisen, landet in einem mysteriösen Ausbildungscamp für Al-Qaida-Terroristen und später in einem tunesischen Piratendorf, wo er aber davon Abstand nimmt, eines der Flüchtlingsboote zu besteigen.

So hat er eines Tages die Idee, sich wie Steve McQueen in dem Film „Papillon“ vor Lampedusa ins Wasser fallen zu lassen: „Sie fischen mich raus, ich sage, ich sei ein Ausländer, und lasse mich einsperren. Papillon hat es getan, um von der Insel wegzukommen. Ich tue es, um mich festnehmen zu lassen.“ Dieses Vorhaben trägt obsessiv-romantische Züge, es wirkt ein wenig übertrieben, Wallraff-haft.

Gleichwohl ist der Schritt logisch, die Sklavenpiste endet schließlich nicht am Mittelmeer. Gatti macht sich ein zweites Mal auf den Weg, dieses Mal undercover, ohne Personalausweis, als kurdischer Türke, mit nichts als dreckigen Klamotten und einer nach Fischöl riechenden Schwimmweste am Leib. Es klappt, wie er es sich vorgestellt hat, er lernt das Lager in Lampedusa von innen kennen: die Quälereien der Wärter, die dreckigen Waschanlagen, das miese Essen, die menschenunwürdige Behandlung.

Trägt Gattis Buch in seiner ersten Hälfte Züge einer spannend-abenteuerlichen Afrikareportage, die nichtsdestotrotz schockiert und wachrüttelt, so bekommt es in dem Bilal-Lampedusa-Teil eine betont anklagende, politische Komponente: Italien macht mit dem einstigen Schurkenstaat Libyen gemeinsame Sache und hat ihn zum sicheren Dritt- und Freundesstaat erklärt, um insbesondere der illegalen Zuwandererströme Herr zu werden. Libyen erfüllt offiziell die Forderungen der EU nach Flüchtlingskontrolle, hat aber kein wirkliches Interesse daran: Das Geschäft mit den Flüchtlingen ist viel zu lukrativ. Auch die Kriterien, nach denen auf Lampedusa sofort abgeschoben oder kurzzeitig eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (für die Flüchtlinge die Gelegenheit, abzutauchen), sind völlig unklar.

Das nährt den Verdacht, dass Italien (wie andere EU-Länder auch) von den Illegalen profitiert: in der Baubranche, auf den Obst- und Gemüseplantagen. Hier wird die Drecksarbeit gemacht, sorgen illegale Einwanderer für gewinnbringende Produktion. Um auf solche Gedanken zu kommen, braucht es kein Ideologie. Gattis Buch ist ein eindrucksvolles Zeugnis davon, wie schlimm es auf der Nachtseite der europäischen Wohlstandsgesellschaften zugeht. Dass „Ärzte ohne Grenzen“ keinen Zugang zu dem Lager auf Lampedusa erhielt, deutet übrigens darauf hin, dass die Zustände dort auch nach Gattis Enthüllungen nicht besser geworden sind.

Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Aus dem Italienischen von Rita Seuß. Kunstmann Verlag, München 2010, 460 Seiten, 24,90 Euro.

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