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Kultur: Falk Richter recherchiert für ein Theaterstück - ein junger Autor außerhalb seiner Welt

In der verheerten Provinz trifft er Militärs, fremde Helfer - und den kosovarischen Kollegen Orhan Kerkezi. Auf einmal entsteht ein Stück vom Stück.

Von Caroline Fetscher

In der verheerten Provinz trifft er Militärs, fremde Helfer - und den kosovarischen Kollegen Orhan Kerkezi. Auf einmal entsteht ein Stück vom Stück.Caroline Fetscher

Es ist der kälteste Winter im Kosovo seit sieben Jahren, ausgerechnet dieser, sagen die Leute. Ein Notwinter, in dessen Mantelfalten das Leben trotzdem weitergeht. Nachts in der Kleinstadt Prizren, wenn der Strom nicht gerade gekappt ist, klingt der Mainstream-Pop des Westens aus den Boxen der Cafés hinter der Chadervan-Moschee. Prizrens Jugend ist unterwegs. Sand oder Salz streut hier keiner auf die Gassen, alle balancieren über verkrustetes Eis.

Im Krieg blieb die mittelalterliche Stadt, die man früher Klein-Paris nannte, relativ intakt. Aber danach brannten Häuser: die der Serben. "Burning down the House! Burning down the House!" dröhnt es aus einer Kneipe mit beschlagenen Scheiben. Einen seltsamen Klang bekommt hier der Song, er sprengt seine eigene Metaphorik. Hör mal, sagt der deutsche Spaziergänger. Das ist die Coverversion, sagt er, mit Tom Jones als David-Byrne-Stunt. Er macht in seinem Gedächtnis eine Notiz. Falk Richter ist dreißig, er schreibt Theaterstücke und inszeniert. Er ist hierhergereist, um herauszufinden, was im Kosovo passiert, was deutsche Soldaten hier machen, wie sie sprechen und denken - er sammelt Material für ein Stück, das "Peace" heißen soll. An der Schaubühne wird es im Frühjahr uraufgeführt.

Falk Richter scheint pausenlos zu notieren, im Kopf, mit den Augen, mit der Digitalkamera, ins Schreibheft. Seine Aufmerksamkeit beginnt, wo die der Reporter aufhört, deren Texte unmittelbar Ware werden - genau die Ware, mit der sich Richters Stücke kritisch auseinander setzen.

In einem Bundeswehrflugzeug ist der Schriftsteller vom bayerischen Fliegerhorst Penzing in die Region geflogen; wohl einer der ungewöhnlichsten Passagiere, den die schwere Transportmaschine Transall in den vergangenen Monaten auf ihren Shuttleflügen zwischen Krisengebiet und Zuhause mitnahm. Dreimal die Woche steigen ein paar Dutzend Soldaten ein, frühmorgens und müde. Ab und zu fliegt noch ein Fernsehteam aus Deutschland mit. Burning down the House: Seit die Serbenhäuser in Flammen aufgehen, machen manche Journalisten sich wieder auf den Weg ins Kosovo. Albaner-Opfer "sind durch", als Nachklapp gab es "Albaner werden Täter". Die meisten Kriegsreporter sind weitergeeilt, erst nach Ost-Timor, dann nach Tschetschenien.

Übriggeblieben sind eine verheerte Landschaft und ein gigantischer internationaler Aufbau in einem Land mit kaum zwei Millionen Einwohnern: 400 Hilfsorganisationen, 40 000 KFOR-Soldaten, tausende von "Projekten". Wie diese Landschaft entsteht, das ist das vielleicht spannendste Gegenwartsthema, doch den Journalisten fehlt das akute Drama. Und die Stuckrad-Barres der Republik treiben sich lieber mit Schlingensief in Deutsch-Südwest herum.

Richter will auch über den Medien-Event Krieg ein Theaterstück schreiben. Was bedeutet das inzwischen: "Kosovo"? Er kommt mit nüchterner Neugier, gewappnet mit der Skepsis und dem kompromisslosen Blick seiner Generation, die für Sentimentales und Utopisches keinerlei Neigung hat. Richter filmt die Pinnwand mit Schnappschüssen von Kameraden in einem Gebäude fremder Helfer, er notiert Ausdrücke der Militärs ("Ist das Gepäck am Mann?"), Abkürzungen und Motti. Alles ist neu hier für jemanden von "draußen". Falk Richter reist meistens zwischen Probebühnen, Flughäfen und Hotels hin- und her, er ist ein Vielarbeiter. Zur Zeit läuft von ihm in Hamburg ein eigenes Stück, in Amsterdam inszeniert er Brechts "Heilige Johanna", demnächst arbeitet er mit Marthaler in Zürich und in Berlin mit Ostermeier.

Der Jeep der freundlichen KFOR-Begleiter, beide mit MP und Schutzweste, holpert über vereiste Landstraßen, die Nächte im Hotel "Theranda" muss man ohne Heizung, Strom und Warmwasser bei Kerzenlicht durchstehen - auch der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Besucher für eine Nacht, muss hier absteigen und friert beim Frühstück: eine Portion Realität für Politiker. Falk Richter hört nirgends auf zu notieren. Im Hauptquartier eines KFOR-Pressestabes hängt der ironische Spruch: "You only win when CNN says you win". Eine Trouvaille. Auch dass die eingeschweißten Ausweise am Revers der Militärs den Vermerk "Theatre-ID" tragen, befremdet und amüsiert ihn. "Theatre" ist in der Sprache der Militärs das Operationsgebiet.

Dann aber gibt es die Wirklichkeit. Jenseits der Fundstücke und Redeweisen der Fremden im Land. Wirkliche Gewalt, wirklich ausgebrannte Häuser, gesprengte Dachstühle, Gräberfelder, auf denen ganze Familien liegen, dreißig, vierzig Menschen, die am selben Tag starben. Anfangs nimmt Richter so viel Neues auf, dass er gelegentlich stumm wird. Solche Landschaften sind für keinen, der aus dem "Westen" kommt, normal.

Falk Richters Dramen mit Namen wie "Gott ist ein DJ" und "Nothing Hurts" sind akribiewütige Protokolle und Fantasien aus der virtuellen, von Medien, Werbung, Talkshows durchwobenen Szene Westeuropas. Hier im Kosovo ist er in einer Welt weit jenseits von dieser gelandet, wo fast nur noch Popsongs an Vertrautes erinnern. Sind wir in Europa? Ein paar Mal verspricht nicht nur Richter sich, wenn wir im Gespräch mit kosovarischen Freunden sagen, dass wir am Samstag "back to Europe" fahren. Wo sind wir? Mit welchem Blick der Bildersucher das Geschehen aufnimmt, kann ich mitunter nur ahnen, zum Beispiel wenn er einen Müllberg aus grünen Bierdosen filmt. "Meine Bühnenbildnerin hat gesagt, ich soll alles filmen, wasnicht hierhergehört."

Wir freuen uns über die kluge Anweisung. Aber was gehört hierher? Keiner von uns, aufgewachsen im materiell und rechtlich sicheren Nachkriegsbürgertum, weiß es so genau.

Was ist "Kosovo"? Den Fremden ist es so wenig klar, wie vor einem Jahr, auch denen, die schon länger hier sind.

"Kosovo" - ein Kaleidoskop der Bedeutungen. In den Ohren vieler Serben klingt Kosovo Polje mit, das Amselfeld, auf dem 1389 die Schlacht gegen die Türken verloren ging. Nato-Militärs fusionierten im Namen "Kosovo" viele Deutungsfragmente: Die Deutschen kompensierten in diesem Krieg auch ein Stück Vergangenheit. "Nie wieder Auschwitz": Was hatte Joschka Fischers Aussage mit dem zu tun, fragt sich Falk Richter, was wir hier sehen? Amerikaner fanden in Milosevic ein Residuum der Feindbilder aus dem Kalten Krieg. Arabische Staaten wiederum schickten Hilfstrupps in der Annahme, es würden Moslems verfolgt. Vertrieben wurden auch Katholiken.

Richter will den Innenraum dieses"Kosovo" verstehen, der Provinz, in der es "so aussieht, als wäre hier was passiert, das für mich unfassbar ist". Er hofft vor allem auf das Treffen mit einem Kollegen, Orhan Kerkezi, Theaterregisseur und Dramatiker in Prizren. Kerkezi ist Mitte dreißig, er verehrt Roberto Benigni und erinnert etwas an den tragikomischen Künstler. Während des Krieges hielt sich Kerkezi 85 Tage im Keller seiner Wohnung versteckt, aus Angst vor den serbischen Paramilitärs. In Prishtina hat er einmal eine "Faust"-Adaptation inszeniert und seine Version von "Warten auf Godot" - Warten auf Erlösung. Die Premierenbesucher in der ersten Reihe waren Paramilitärs, sagt er, "aber meinen politischen Witz haben sie nicht kapiert".

Kerkezi führt uns im Dunkeln durch die Stromausfall-Stadt zu einem der wenigen Orte mit Notstromaggregat, ein Restaurant. Begeistert ist er vom Gast aus Berlin. "Ich konnte gar nicht glauben, dass mich ein Kollege besucht!" Er hat Angst, Alkohol zu trinken, "dann kommt alles wieder hoch, und ich muss weinen". Er lacht. Vor der Tür des Restaurants summt laut der Generator, ab und zu streikt der Generator, und das Licht fällt auch hier aus, so wie Kerkezis Rede, wie sein Erinnern an das, was war. Es ist fast unerträglich, ihn nicht trösten zu können, und der neue Freund hält sich zurück, ihn zu umarmen, auch wenn es das allein wäre, was man instinktiv tun möchte.

"Könnt ihr proben, hier?" Ohne Strom, ohne Licht? Was denkt ihr denn? Neulich hat er trotzdem ein Stück aufgeführt, eine Farce über die vielen zivilen Helfer im Land, die mit teuren Laptop-Computern und mit Satelliten-Telefon umhereilen, wenig ausrichten und albanischen Schönheiten Jobs verschaffen, zweideutige.

Dann hat ihn "Save the Children" rausgeworfen, die Organisation, für die er mit Kindertheater-Sketches zur Warnung vor Minen auf Tour war. Ein Somalier war dort sein Chef. Das verkraftet Kerkezi kaum: "Glauben die, hier wäre Afrika? Wir sind Europäer!", erklärt er gekränkt. Es fruchtet wenig, dass wir solchen Eurozentrismus falsch finden und aufzuklären versuchen. Kerkezi kennt die Vokabel nicht, er hört unseren Erklärungen höflich zu und verwirft sie heimlich sofort. Er will, sagt er, am liebsten "nur die Nato" hierhaben, von Helfern hat er genug.

Der deutsche Freund wechselt das Thema. "Was ist Kosovo?" fragt er unvermittelt. "Du kannst mir das sagen, du bist Künstler." Schweigen. "Weiß nicht", antwortet Kerkezi nach langer Pause. Er lächelt erstaunt. Und auf einmal entsteht ein Dialog, ein Stück in gebrochenem Englisch, erfunden von zwei Regisseuren, oszillierend zwischen Tagtraum und Realität.

"Du musst es wissen, du lebst hier." "Ich lebe hier?" "Ja." "Kosovo ist ein kleines Land mit einer großen Tür." "Weil alle hierherkommen?" "Ja, alle kommen sie hierher." "Und ist das gut oder schlecht?" "Es bringt nichts." "Was meinst du damit?" "Nichts wird besser." "Nichts?" "Ich sehe nichts, was sie tun." "Vielleicht ist es schwierig für sie, hier?" "Wieso schwierig? Sie sind Nato, Nato kann alles." "Braucht ihr Geld? Nein, kein Geld." "Warum ist hier so viel Hass?" "Es ist nicht Hass." "Was denn? Was braucht ihr?" "Kosovo ist ein Hospital." "Dein Land?" "Ja." "Du bist also krank?" "Ja, sehr krank." "Okay, ich bin Arzt. Ich stelle dir ein paar Fragen." "Gut." "Was fehlt dir?" "Das weiß ich doch nicht, du bist der Arzt." "Was ist das Problem?" "Weiß ich nicht, frag du mich." "Wie geht es deinen Augen, wie fühlen sie sich an?" "Sie möchten nichts mehr sehen." "Tun sie weh?" "Sehr." "Wegen dem, was sie gesehen haben?" "Weiß ich nicht. Frag mich mehr, frag mich noch was." "Und dein Mund, kann der sprechen?" "Nein." "Warum nicht?" "Ich weiß nicht, du bist der Arzt." "Er will nicht sprechen?" "Nein."

"Was fühlst du, kannst du Liebe fühlen?" "Was ist Liebe?" "Wenn dich jemand berührt, wenn sich das gut anfühlt." "Was ist gut?" "Gut ist, wenn du zu jemandem Ja sagst." "Hm." "Geht es dir so, wenn deine Frau dich berührt?" "Manchmal, ich weiß nicht."

Kerkezi lacht, das spontan erfundene Stück bricht ab. Der Strom fällt aus, das Licht erlischt, wir zünden eine Kerze an, der Strom setzt wieder ein. Nun hat der kosovarische Autor doch angefangen, Wein und Raki mit uns zu trinken, und er besteht darauf, uns zu der Mahlzeit einzuladen. Seinen Teller hat er kaum angerührt. Aber er wirkt wie vorübergehend erlöst durch die Arbeit - denn es war Arbeit - mit dem Kollegen. "Du musst wiederkommen!" beschwört er ihn. "Ja, im März", verspricht Richter. Vielleicht werden sie zusammen arbeiten, sagen sie. Kerkezi blüht auf, bei dem Gedanken. Denn eigentlich will er, der wie alle in der Region Prizren noch das Türkisch der Osmanen spricht, nach Istanbul auswandern. "Du musst hier bleiben!", sagt Richter bestimmt, "sie brauchen Leute genau wie dich!" Kerkezi antwortet nicht, er leitet einen Abschied ein, fröhlich gestimmt.

Die "Traumatisierungsrate" in der kosovarischen Bevölkerung, das haben Juristen und Psychologen von Human Rights Watch im Sommer gesagt, sei "100 Prozent". Falk Richter und Orhan Kerkezi haben zusammen "Trauma und Heilen" inszeniert, und einige Augenblicke lang wurde uns allen klar, was Kunst kann. Wie Künstler Traumata in Produktives verwandeln. Noch nie, wahrscheinlich, haben Nato-Leute oder Hilfswerker mit einem Kosovaren so gesprochen, wie es der junge professionelle Mann von der Schaubühne heute Nacht getan hat. "Das wird ein Teil vom Stück", sagt Falk Richter auf dem Weg zurück ins kalte Hotel, wie abwesend.

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