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Emily (Taylor Russell) muss hilflos mitansehen, wie ihre Familie nach einem tragischen Unfall langsam zerbricht.

© Universal

Familiendrama "Waves" im Kino: Die Sonne heilt fast alle Wunden

Trey Edward Shults erweist sich mit dem Familiendrama "Waves" als großer visueller und musikalischer Erzähler.

Von Andreas Busche

An amerikanischen Highschools führt der Weg an die Spitze der sozialen Hierarchie über das Footballteam. Baseball und Basketball versprechen Prestige, American Football aber verleiht Status. Tyler (Kelvin Harrison Jr.) hat sich für das Ringen entschieden, zum Leidwesen seines Vaters (Sterling K. Brown): Ein Kräftemessen in Strampelanzügen entspricht nicht unbedingt Ronalds Männlichkeitsbild.

Aber da er seinen Kindern schon in jungen Jahren Disziplin eingetrichtert hat, betreibt er mit Tyler ein brutales Fitnessregime. „Die Welt kehrt sich einen Scheiß um mich und um dich“, ermahnt Ronald ihn in einem dieser Vater-Sohn-Gespräche. „Wir können es uns nicht leisten, durchschnittlich zu sein.“

Die Messlatte liegt hoch, aber Tylers Ringerkarriere beeinträchtigt seine Popularität nicht. Sein Sozialleben ist hochgradig instagrammable, voller Partys, Musik und mit dem hübschesten Mädchen der Schule an seiner Seite: Alexis (Alexa Demie), von allen nur Goddess genannt.

Farben und Musik als emotionales Elixier

Wenn Tyler und Goddess – er mit blondiertem Afro, sie mit neonfarbenem Nagellack – Hand in Hand auf einer Party auftauchen, teilt sich die Menge vor ihnen wie das Rote Meer; sie tauchen ein in einen Wirbel aus Pophits, Farben und Tanz.

Drew Daniels’ Kamera kommt in den ersten zehn Minuten von Trey Edward Shults’ drittem Film „Waves“, einer rauschhaften Montage zum psychedelischen Pop von Animal Collective, kaum zur Ruhe. Da ist es nur logisch, dass der Kolorist Damien van der Cruyssen und Sounddesigner Johnnie Burn in den Credits ganz vorne stehen, gleich hinter den Hauptdarstellern.

Farben und Musik sind das emotionale Elixier im Teenagerdrama von Tyler und seiner jüngeren Schwester Emily (Taylor Russell), das ihre Familie zu zerreißen droht.

Unverwundbarkeit der Jugend

Der 31-jährige Shults hat seine ersten Erfahrungen bei Terrence Malick gesammelt, man sieht das gleich in den Anfangsminuten. Die Körper seiner Figuren erscheinen wie von nichtirdischen Mächten getragen.

Ihre Unverwundbarkeit mag bloß ein typisches Charakteristikum der Jugend sein; wie selbstverständlich sich seine jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten durch das Leben bewegen, überhöht das Banale aber auch zur Essenz einer Lebensphase, die ganz im Augenblick verhaftet ist.

Shults fängt diesen Moment der Adoleszenz mit einer alle Sinne sprengenden Wucht ein, die im Genre des Highschool-Films viel selten zu sehen ist. Die HBO-Serie „Euphoria“ fällt einem aus jüngster Zeit spontan ein, in der Daniels ebenfalls hinter der Kamera stand – und Alexa Demie davor. Aber in der Vorstadthölle von „Euphoria“ geht es primär um Drogen, Sex und Gewalt, während „Waves“, angesiedelt im sonnendurchfluteten Florida, eine Unbeschwertheit entfesselt, die fast zwangsläufig in einer Tragödie enden muss.

Eine andere Facette von Americana

Tylers natürlicher Anspruch auf einen Platz an der Sonne erhält einen Dämpfer, als ihm die Ärzte mitteilen, dass seine lädierte Schulter seine hoffnungsvolle Ringerkarriere vorzeitig beendet. Vor den Augen seines Vaters wird er im Wettkampf demontiert, tränenüberströmt stemmt er sich gegen sein Scheitern, bis sein Körper schließlich aufgibt.

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Als ihm Goddess auch noch gesteht, dass sie schwanger ist und das Baby behalten möchte – der Ausflug in die Abtreibungsklinik offenbart eine andere Facette von Americana, Tyler wird von einer Pro-Life-Demonstrantin rassistisch beleidigt –, beginnt ihm seine viel versprechende Zukunft zu entgleiten. Tyler verliert die Kontrolle.

Der Soundtrack ist eine kunstvolle Klangtapete

An diesem Punkt, nach etwa einer Stunde, vollzieht „Waves“ einen dramatischen Bruch, den man an dieser Stelle besser nicht verrät. Aber Tylers Zusammenbruch hat schwerwiegende Konsequenzen für den Film – das Format springt von Cinemascope auf das schmale Academy Ratio – und für die Familie. Shults wechselt den Ton und die Perspektive, die zweite Hälfte des Films fokussiert auf Emily (Taylor Russell), die hilflos mitansehen muss, wie ihre Eltern an der Tat ihres Sohnes zerbrechen.

Das schüchterne Mädchen bewegt sich, anders als Tyler, fast unsichtbar über den Schulcampus; die frenetische Energie der ersten Stunde weicht einer introvertierten Stille, in der die Themen Verlust und Heilung in den Vordergrund treten.

Das Sounddesign, eine kunstvoll kuratierte Klangtapete aus Hip-Hop (Frank Ocean, Kendrick Lamar), Indie (Tame Impala, Radiohead) und Soul (Dinah Washington, Amy Winehouse) sowie die traumhaft somnambulen Bilder sind die einzigen verbindenden Stilelemente zwischen den beiden Teilen.

Toxische Männlichkeit und zarte Romanze

Emily wird von ihrem Klassenkameraden Luke (Lucas Hedges) sanft aus ihrem Trauma, das sie wie in Watte hüllt, gerissen. Plötzlich steht das Teenagerdrama in „Waves“ unter völlig neuen Vorzeichen. Luke, der mit Tyler im Ringerteam war, stellt sich ähnlich ungeschickt an wie Emily, ihre vorsichtige Annäherung besitzt aber eine therapeutische Wirkung, die die beiden auseinanderstrebenden Teile des Films zusammenhält.

Ihre zarte Freundschaft fungiert als Gegenpart zur toxischen Maskulinität, die die Vater-Sohn-Beziehung ausmacht. „Waves“ beschreibt den Heilungsprozess in homöopathischen Dosen. Beim Angelausflug, dem zentralen Vater-Tochter-Gespräch im Film, entschuldigt sich Ronald bei Emily für seine Strenge und gesteht unter Tränen, dass er fürchtet, die trauernde Catherine, seine Frau (Renée Elise Goldsberry, eine starke Präsenz in nur wenigen Szenen), zu verlieren.

„Waves“ ist Shults’ dritter Film über Familien im Ausnahmezustand, nach zuletzt dem Apokalypsedrama „It Comes At Night“ von 2017. Er zeigt dabei inzwischen auch eine für sein Alter erstaunliche psychologische Reife, was nicht zuletzt an seiner Sensibilität für die männliche und die weibliche Perspektive der Figuren erkennbar wird.

Und dass er, als weißer Filmemacher, die afroamerikanische Lebenswirklichkeit reflektiert, ohne sie in den Mittelpunkt zu stellen. Shults etabliert sich mit „Waves“ – neben Barry Jenkins und den Safdie-Brüdern – als großer visueller Stilist seiner Generation, der gleichzeitig über ein feines Gespür für die gesellschaftlichen Nuancen seiner Sujets verfügt.
In acht Berliner Kinos (auch OmU); OV: Rollberg

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