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Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Vorarlberg.

© picture alliance / Jan Woitas/ dpa

Familienroman von Michael Köhlmeier: Die Liebe der Seelenverwandten

Ein bisschen Ende gibt es nicht: Michael Köhlmeiers radikal schöner Familienroman „Bruder und Schwester Lenobel“.

Die in ihrer Allgemeinheit so pathetische wie lakonische Widmung „Für die Familie“ ist gleich die erste bittere Pointe, die Michael Köhlmeier in seinem neuen Roman „Bruder und Schwester Lenobel“ bereithält. Denn danach zertrümmert der österreichische Schriftsteller auf hinterlistig sanfte Weise alles, was die Familie ist und sein könnte. Ehen und Partnerschaften, familiäre Bindungen, im Grunde alle bürgerlichen Formen des Zusammenlebens, die auf Struktur und genealogische Ordnung setzen, sie alle lösen sich in dieser weitverzweigten Erzählung auf.

Es beginnt damit, dass der Psychoanalytiker Dr. Robert Lenobel verschwindet. Vielleicht ist er abgehauen, vielleicht ist der Mann, der sich so gut auskennt mit dem Seelenleid der anderen, selbst verrückt geworden. Darüber spekulieren Ehefrau Hanna und Schwester Jetti, die sich in der Wiener Wohnung der Lenobels treffen. Jetti ist aus Dublin angereist, wo sie eine Agentur leitet, die kulturelle Großprojekte mit vielen Fördergeldern organisiert.

Die Reise in die Heimatstadt ist auch eine Flucht vor ihrem Beziehungsdurcheinander. Gleich zwei Liebhaber machen sie zeitweise glücklich, dann aber auch sehr unglücklich: der verheiratete Jamie und der schöne und in seiner selbstgefälligen Oberflächlichkeit völlig schmerzbefreite Lucien, der sich nach der Trennung von Jetti zu einem veritablen Stalker entwickelt. Schwierigkeiten mit dem angeblich starken Geschlecht aber hatte Jetti schon seit ihrer Schulzeit, was auch daran liegt, dass sie offenbar promiskuitiv veranlagt ist. Und sich vom Mathelehrer bis zum Schulwart fast alle Männer in ihrer Umgebung einbilden, sich in die junge Schöne verlieben zu dürfen. Wenn es aber darum ging, die Frau des Mathelehrers zu beruhigen oder die Schwester vor den depressiven Anwandlungen der Mutter zu bewahren, war Bruder Robert stets zur Stelle, und so ist es auch kein Wunder, dass Jetti nach Wien kommt, nicht etwa um der verstörten Schwägerin Hanna zu helfen, sondern um der eigenen Liebe zu ihrem Bruder auf den Grund zu gehen.

Lösen von Bindungen, die kein Glück versprechen

Je näher man dem vermissten Robert in Köhlmeiers fein gesponnenem Roman kommt, desto tiefer geht es in eine düstere Familiengeschichte: ein verschwundener Vater und eine betrogene Mutter. Jüdische Großeltern mütterlicherseits, die im KZ ermordet wurden. Jüdische Großeltern väterlicherseits, die sich in Israel gemeinsam das Leben genommen haben. Traumatisiert sind in dieser Familie alle, ob nun wegen des Naziterrors oder aufgrund von Lebensentwürfen, in denen eine kaum eingestandene Lieblosigkeit herrscht.

Michael Köhlmeier legt seine traurigen Helden tatsächlich auf die Therapeutencouch. Aus sicherer Erzähldistanz, fast wie im Märchen, lässt er seine Protagonisten über sich und andere reflektieren, und dabei erkennen Bruder und Schwester Lenobel, dass sie sich trennen müssen von Bindungen, die kein Glück versprechen, sondern nur die Macht der Gewohnheit beinhalten: „Wenn man eine Beziehung beendet, wenn man sich bewusst ist, dass die Beziehung am Ende ist, weiß man, dass sie eigentlich seit Längerem zu Ende ist, man hat es vorher nur nicht wahrnehmen wollen. Ist es nicht so? Niemand will ein Ende zelebrieren. Ein bisschen Ende gibt es nicht.“

Weder altmodisch noch altersmilde

Dieser Familienroman ist ein radikaler und radikal schöner Trennungsroman, der die Qual der Beziehungsauflösung und das Unglück der Zurückgelassenen mal elaboriert, mal drastisch und zuweilen auch humorvoll ausleuchtet, um dann mit erzählerischer Leidenschaft die Liebe der wahrhaft Seelenverwandten zu feiern. Robert Lenobel findet seinen Seelenfrieden nicht, wie er zeitweise glaubt, im Land, in den Büchern oder in der Religion der Vorfahren, sondern im schweren und dann wiederum einfachen Entschluss, die Ehefrau zu verlassen und ein Leben mit der schwangeren Geliebten zu beginnen. Jetti wiederum erkennt, dass Roberts Freund, der Schriftsteller Sebastian Lukasser – der bereits in anderen Romanen Michael Köhlmeiers eine tragende Rolle spielt –, jener Mann ist, der nicht nur schöne und schauerliche Märchen zu erzählen weiß, sondern mit dem sie nach all den Jahren der Freundschaft endlich eine längst überfällige und in dieser Notwendigkeit fast schon märchenhafte Liebe beginnen möchte.

Lukasser ist natürlich das Alter Ego des 1949 im Vorarlberger Bodenseedörfchen Hard geborenen Köhlmeier, der mit „Bruder und Schwester Lenobel“ sein erstes Alterswerk geschrieben hat - was nicht heißt, dass es altmodisch oder altersmilde rüberkommt. Mit diesem meisterhaften Roman zeigt sich ein Schriftsteller, der selbst ein profilierter Interpret und Autor von Märchen ist, auf dem Höhepunkt seines Schaffens – und das nach dem großartigen Monumentalwerk „Abendland“ oder feinen Novellen wie „Zwei Herren am Strand“ und „Das Mädchen mit dem Fingerhut“.

Der Roman bietet anspruchsvolle Erkenntnisprosa

Lukassers Märchengeschichten, die in kursiver Schrift eingefügt sind, handeln wie viele Arbeiten Michael Köhlmeiers von Tod und Teufel, Liebe, Schuld, Reue und Vergebung. Auch jenseits dieser literarischen Spiegelebenen bietet „Bruder und Schwester Lenobel“ aberwitzige intellektuelle Höhenflüge: Exkurse über das Hören und das Sehen, über Langweile, den Hass, über das Gute und Böse, also die großen Themen der Psychoanalyse und der Philosophie. „Märchen sind samt und sonders Rachegebilde“ heißt es an einer Stelle.

Köhlmeier hat aber viel mehr als nur ein Rachegebilde abgeliefert. Sein Roman bietet anspruchsvolle Erkenntnisprosa. Im Stile negativer Dialektik nimmt diese Prosa gerade gewonnene Einsichten wieder zurück, demonstriert grenzenlose Freude am Fabulieren und erinnert an den Reichtum der Sprache mit längst vergessenen Wörtern wie „affrös“.

Und sie entgegnet allen Tugendwächtern schalkhaft lächelnd, dass die Liebe auch in nachkommenden Generationen nicht auf dem Schlachtfeld bürgerlicher oder religiöser Moral entschieden wird. Sondern die Suche nach Seelenverwandten zu den schönsten und grausamsten Erfahrungen im Leben zählt. Und auch in der Literatur.

Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel. Hanser Verlag, München 2018, 541 Seiten, 26 €.

Carsten Otte

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