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Da schau her. Der französische Künstler JR hat 15 Porträts von alten Frauen und Männern auf Berliner Giebel gebracht. Um die Ecke vom Postbahnhof ist das von Helga zu sehen. Fotos: AFP, Georg Moritz

© Georg Moritz

Fassadenbilder: Ein Starschnitt von dir

Die Riesenporträts von JR kleben überall in Berlin. Eine Begegnung mit dem Street-Art-Künstler – und mit seinen Models.

Ein Bild von ihr sei gerade nach Amerika verkauft worden, sagt Helga Nippa und schlägt ungläubig eine Hand vor den Mund. Ihre Augen blitzen freudig hinter der Brille. Neben Helga steht Ehemann Gerd, davor und dahinter drängen sich Menschen. In einer Galerie in Berlin- Mitte wird an diesem Abend die Ausstellung „The Wrinkles of the City“ des französischen Künstlers und Aktivisten JR eröffnet. Der 30-Jährige mit Studios in Paris und New York hat in den vergangenen Tagen 15 riesengroße Schwarz-Weiß-Porträts von älteren Berlinern auf Hauswände geklebt, „gepastet“ wie es im Street-Art-Jargon heißt. JRs Fotografien und Videos, die ebenfalls bei solchen Aktionen entstehen, sind bei Sammlern und Kunstkäufern extrem begehrt.

Nach Havanna, Cartagena, Schanghai und Los Angeles hat JR nun Berlin für seine Hommage an die Alten ausgewählt. Die Falten der Stadt sollen mit den Falten der Menschen in Dialog treten. In Berlin arbeitet er oft. Die zwei Astronauten auf der Brandmauer in der Schlesischen Straße, vielleicht das am häufigsten fotografierte Street-Art-Kunstwerk der Stadt, stammte von ihm und BLU. Mit 15 fing er an, in Paris auf Dächern herumzuklettern und sein „Tag“ auf möglichst viele Wände zu malen. Mittlerweile muss er sich nicht mehr nachts aus dem Haus schleichen, um sich im Stadtraum zu verewigen. JR adelt Wände. Ob in der Invalidenstraße, der Rosenthaler Straße, am Soho-Haus oder am Turm der alten AEG-Fabrik in der Gustav-Meyer-Straße, der Künstler geht bei Tageslicht ans Werk, rückt mit einem ganzen Team an, teilweise stehen 16 Leute auf den Gerüsten und kleben die Papierrollen. In Havanna gebe es überhaupt keine Bilder an den Wänden, L.A. sei interessant, weil es grade keine Falten habe, und Berlin wegen seiner Geschichte, sagt JR. Hier gibt es einige Falten im Gemäuer. JR ist noch rechtzeitig gekommen.

Auch rechtzeitig, um Helga, Gerd, Joachim, Volker, Ruth, Inge oder Gerhard kennenzulernen. JR hat eine Assistentin losgeschickt, um Berliner Senioren zu finden. Einzige Vorgabe: Die Menschen sollten zwischen 75 und 90 Jahre alt sein und keine Scheu davor haben, ihr Gesicht 16 Meter groß an einem Gebäude zu sehen. Wer vor den Ostbahnhof tritt oder die Mühlenstraße entlangfährt, kann das Porträt von Helga und Gerd nicht übersehen. Sein Gesicht klebt auf der Stirnseite des Hauses, ihres auf der Längsseite, so dass Helgas Kopf an Gerds Rücken lehnt, ihre Augen sind geschlossen, als würden sie von etwas träumen.

Alte und Junge zusammenbringen

Beim Treffen mit Helga, Gerd, Joachim, Volker und Komet nieselt es, Helga hält einen Schirm. „Ich habe mich schon von der Straße aus erkannt“, sagt sie und betrachtet das Riesenposter. „Der Ohrring, die Haare, man erkennt jedes Detail.“ Gerd ist ebenfalls angetan. Der Künstler hat das Ehepaar in Köpenick besucht, wo sie seit 1958 leben, er hat Fotos gemacht und ein Interview geführt und dabei wohl auch was über Helgas Bezug zum Postbahnhof erfahren. „Zu DDR-Zeiten wurden wir freigestellt und mussten hier Pakete aus dem Westen auspacken“, erinnert sich Helga. „Das war furchtbar, alles aufreißen und dann die Sachen wieder reinschmeißen, beim nächsten Mal hab’ ich mich krankgemeldet, ich hab’ das nie wieder gemacht.“

Komet ist mit 66 Jahren wahrscheinlich der jüngste Porträtierte. „Sonst bin ich überall, wo ich hingehe, der Älteste“, sagt er. Auch er ist begeistert von den Porträts. „Und sie sind temporär, wie alles im Leben, das finde ich schön“. Er trägt eine Hose und eine Jacke im Japan-Stil, seinen langen weißen Bart hat er zum Zopf gebunden, am Gürtel hängt ein Seifenblasen-Fläschchen. Vor zehn Jahren kam Komet aus Mainz nach Berlin. Als die Gruppe mit der S-Bahn zur Warschauer Brücke fährt, um das Porträt von Volker und Joachim zu betrachten, zeigt Komet durch die Zugfenster auf das Berghain am Wriezener Bahnhof. Er ist Stammgast und darf umsonst rein.

Das Porträt von Volker und Joachim prangt auf der Rückseite eines Gebäudes auf dem RAW-Gelände. Volker ist Arzt im Ruhestand, Joachim war Kostümbildner. Nun ist das Paar aus Tempelhof, Kopf an Kopf und mit geschlossenen Augen aufgeklebt, Teil der Gegend um die Warschauer Brücke, mit der sie sonst nichts zu tun haben. Komet läuft herum und fragt Jugendliche, wie sie das Senioren-Pasting finden. „Mal was anderes“, sagen die. JRs Aktion fängt an, Früchte zu tragen.

JR ist unbeschwert, ein Idealist und so ein Popstar der Kunst geworden. Immer umringt ihn eine Traube von jungen Fans, alle wollen ein Foto mit ihm. Und er – stets mit Hut und Sonnenbrille – gibt ihnen, was sie wollen. Ein Lächeln, ein Gespräch, eine Umarmung. Die Ausstellungseröffnung in Mitte aber ist der große Moment der alten Menschen. Helga erzählt, wie sie zu JR aufs Gerüst gestiegen ist, die Wand mit Kleister bepinselt und das Posterpapier mit den Fingern in die Mauerritzen gedrückt hat. Komet pustet eine riesige Seifenblase in den Raum, auch ihn umgibt ein Tross junger Fans.

Mit ein bisschen Kleber und Papier kann man die Welt verändern, ist JRs Credo. „Es geht auch ohne Museen oder Galerien – die Stadt ist die Leinwand“, sagt er. JR klebte in den Favelas von Rio de Janeiro, im Sudan oder im Nahen Osten, wo er Porträts von Palästinensern und Israelis direkt nebeneinander hängte. Wer die Stadt gestaltet, ändert die Realität, das hat er bei seinen Aktionen erfahren. In Berlin will er Alte und Junge zusammenbringen. Es funktioniert.

Galerie Henrik Springmann, Gipsstr. 14, Mitte, Di–Fr 12–19, Sa 11–18, bis 25. Mai

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