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Kultur: Fast ein Fest

Manchmal schreibt das Leben die schönsten Geschichten, sagt man.Und nichts soll anrührender sein, als Menschen wie dir und mir bei ihren ganz alltäglichen Sorgen zuzusehen.

Manchmal schreibt das Leben die schönsten Geschichten, sagt man.Und nichts soll anrührender sein, als Menschen wie dir und mir bei ihren ganz alltäglichen Sorgen zuzusehen.Worin die Franzosen - revolutionäre Erkenntnis der nouvelle vague - von jeher Meister sind.Cédric Klapitsch, fast schon ein Enkel, hatte den Charme des Allerweltslebens in der Pariser Kiez-Welt seines Erstlings "Und jeder sucht sein Kätzchen" fühlen lassen.In seinem neuen Film "Un air de famille" führt er im engen Rahmen einer Provinz-Bar mit einem mißglückten Familienfest eine hinreißende comédie humaine in kleinstem Rahmen vor.

Ereignis Nummer eins: Der Mittvierziger Philippe (Vladimir Jordanoff), aufstrebender Mitarbeiter in einem großen Software-Unternehmen, ist für zwei Minuten in einer Fernseh-Talkshow aufgetreten.Und nun kommt für die Familie die Stunde der Wahrheit: "Wie war ich?" - "Wunderbar" - "Wirklich?" - "Aber ja, du kamst nur etwas wenig zu Wort" - "Ist das alles?" - "Nun, vielleicht hast du etwas gestottert." - "Gestottert?" - "Ja, und die Krawatte war auch etwas unpassend.Und außerdem hast du zuviel gelächelt".

Schon ist das Kind in den Brunnen gefallen: Der stolze Fernsehstar ist gekränkt, die wohlmeinenden Verwandten genervt, und alles spricht dafür, daß das traditionelle Familientreffen auf seine allwöchentliche Katastrophe zusteuert.Denn - Ereignis Nummer zwei - der Älteste, Henri (Jean-Pierre Bacri ist gleichzeitig Drehbuchautor), ist just an diesem Abend von seiner Frau verlassen worden.Nicht, weil er sie schlecht behandelt hätte: "Dazu hatte ich doch überhaupt keine Zeit" erklärt der überraschte Barbesitzer.Und sieht den Vorgang nur als Bestätigung, daß sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hat: Die Mutter, die den Ältesten bevorzugt, die Schwester, die zu modern denkt und die Schwägerin, die viel lieber ein Bistro anstelle der Bar sähe.

Diese wiederum, die von ihrem erfolgreichen Mann Henri vernachlässigte Schwägerin, hat - Ereignis Nummer drei - Geburtstag, und bekommt von ihrer Schwiegermutter einen Hund geschenkt.Einen Hund, den sie überhaupt nicht will, und der vermutlich, wie schon sein Vorgänger, bald nur noch als dekoratives Einrichtungselement in der Ecke liegen wird.Denn: "So ein Hund, das ist wie ein Teppich.Nur lebendig."

Und zu guter Letzt - Ereignis Nummer vier - hat sich die rebellische Betty, Dritte und Jüngste im Geschwisterbunde, gerade von ihrem Freund getrennt, der Kellner in Henris Bar ist.

So viele alltägliche Lebenskatastrophen an einem Abend: Kein Wunder, daß das wöchentliche gemeinsame Essen diesmal zugunsten einer allgemeinen Aufarbeitungsdiskussion verschoben wird.An deren Ende alles ist wie zuvor: Verworren, ungeklärt und zerstritten.Und doch ein bißchen anders.

Wie heiter und harmonisch alles mal war, zeigen - etwas unmotiviert - Rückblenden in die Kindheit.Die allerdings schon ahnen lassen, was die Gegenwart belasten wird: Das pädagogische Ungeschick der Mutter und der allgegenwärtige Schatten des Vaters, reaktionär, autoritär, gewalttätig, dem Henri von Temperament und politischer Einstellung her nacheifert."Au père tranquille", der Name der vom Vater geerbten Bar, ist in doppelter Hinsicht ein Witz.Betty schließlich verehrt ihren smarten Bruder Philippe fast zu sehr: So groß ist diese Geschwisterliebe, daß auch Philippe häufig mal den Namen seiner törichten Frau und den seiner Schwester verwechselt.Und es ist die größte Entwicklung, die dieser Film beschreibt, wenn Betty am Ende Philippe etwas weniger und Henri etwas mehr schätzt.

Agnès Jaoui, die in "On connait la chanson" als zerbrechliche Geschichtsstudentin auffiel und hier wie dort am Drehbuch mitgeschrieben hat, ist in "Un air de famille" von ganz anderem Kaliber.In den Moralvorstellungen der Kleinstadtwelt, in der die Töchter weiblich-feminin im Rock auftreten und mit 29 Jahren eigentlich schon längst unter der Haube sein sollten, braucht es wenig mehr als eine Vorliebe für Schnaps, eine schwarze Lederjacke und eine Liebschaft mit dem Kellner, um zu provozieren.Daß gerade Jean-Pierre Darroussin, der zurückhaltend-aufgeweckte Underdog, sich am Ende als einzig integrer Charakter erweist, macht den Weg frei für ein Happy end der neuen Generation.Gut klassenkritisch ist Frankreich geblieben.

fsk (OmU)

CHRISTINA TILMANN

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