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Die Illusion des Echten. In der holländischen Reality-TV Show "Utopia" müssen die Teilnehmer zusammen versuchen, eine neue Gesellschaft zu gründen. Das Format wurde in den Niederlanden entwickelt. Ab 2015 lief es auch im deutschen Privatfernsehen unter dem Namen "Newtopia".

© dpa/Robin Van Lonkhuijsen

Faszination Knausgård: „Min Kamp“ funktioniert wie „Big Brother“

Knausgårds Romanzyklus trifft den Nerv der Zeit: Er nährt den Hunger nach künstlich vermittelter Realität und den Megatrend des radikalen Individualismus.

Die Situation erinnert an einen Marathon, wenn die Läufer gegen Ende ihre Reserven fast vollständig aufgebraucht haben. Es geht in diesem Stadium nicht mehr um die Freuden des Laufens, sondern vor allem darum, den inneren Schweinehund zu besiegen, es trotz aller Widrigkeiten doch noch zu schaffen. Bei einem Marathonlauf mag das als Anreiz genügen. Die Lektüre eines Langstrecken-Romans bedarf hingegen anderer Schubkräfte, um dem fatalen Effekt vergeudeter Lebenszeit entgegenzuwirken.

Was Karl Ove Knausgård den Lesern seines sechsbändigen Romanzyklus „Min Kamp“ (Mein Kampf) zumutet, ist aber genau dies: eine Selbstüberwindung, die in wachsendem Maße ein von der Erzählung abgelöstes Eigenleben annimmt. Folgerichtig lautet denn auch die erste Frage, die aufkommt, wenn sich Knausgård-Leser begegnen, nicht „Wie findest Du’s?“, sondern „Wie weit bist du?“. Der Aufwand, den die buchstäbliche Bezwingung dieses epischen Monolithen erfordert, rangiert mindestens gleichberechtigt neben dem Ertrag: der Erschließung einer „Selbstgeografie“, die großflächig in den Erinnerungsschüben des Icherzählers vermessen wird.

Dem Leser wird schon durch die Lektüredauer die Erfahrung eines Aufenthalts im raumzeitlichen Koordinatensystem des Textes ermöglicht. Knausgård verlangt uns eine aktive Mitwirkung ab, die auch jenseits der Literatur Voraussetzung ernstzunehmender Bindungen ist. Denn das Gesamtszenario des Romans, zu dem sich seine prägenden Motive wie die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Vater oder die Sehnsucht nach dem eigentlichen Leben nach und nach verdichten, speist sich auch aus den Erinnerungen des Lesers an zurückliegende Textpassagen. Wir selbst fügen die Bausteine dieses postheroischen Bildungs- und Entwicklungsromans zu einer Kausalkette zusammen und gelangen so zu einem sehr viel nachhaltigeren Eindruck als bei der Adaption eines stringenten, überschaubaren Handlungsgefüges.

Schriftsteller Karl Ove Knausgård, 48. Gerade ist "Kämpfen" der letzte Roman seines „Min Kamp“-Zyklus erschienen.
Schriftsteller Karl Ove Knausgård, 48. Gerade ist "Kämpfen", der letzte Roman seines „Min Kamp“-Zyklus, erschienen.

© dpa/Alejandro Garcia

Dieser Effekt, sei er nun kalkuliert oder nicht, mag einen Teil der Faszination erklären, die von dem vielfach preisgekrönten Werk ausgeht. Die Frage indes, weshalb ein derart langatmiger, sprachlich nicht sonderlich bestechender Stoff voller inhaltlicher Wiederholungen und Banalitäten eine derart breite Leserschaft finden konnte, ist damit nicht beantwortet. Was an dieser tendenziell selbsttherapeutischen Nabelschau ist derart anziehend, dass es ein Pensum von insgesamt um die 4500 Seiten rechtfertigt?

Gewiss, es fällt nicht schwer, sich mit einem Autor zu identifizieren, der in aller Offenheit seine Schwächen und Unzulänglichkeiten darlegt, der sich gemein macht mit jedermann, indem er sich selbst als „kleinen Scheißer“ und notorischen Versager bezeichnet. Andererseits stehen die permanenten Selbstzweifel und -erniedrigungen des Icherzählers in einem prekären Verhältnis zu einer von Hochmut und Selbstüberschätzung geprägten Sicht der Dinge.

Es ist dieser paradoxe Gestus der Uneindeutigkeit und beständigen Selbsthinterfragung, gepaart mit einem aufs Höchste gerichteten Anspruch und einem penetranten Mitteilungsbedürfnis, der Knausgårds Projekt zu einem paradigmatischen Dokument seiner Zeit macht. Der Stellenwert dieses Romans ist weniger an seine literarischen Qualitäten als an einen Modus der Selbstdarstellung geknüpft, der charakteristisch für seine wie für nachfolgende Generationen ist.

Knausgård macht nichts anderes als ein Facebook-User mit seiner Timeline

Knausgårds radikaler Individualismus spiegelt einen Megatrend seit den achtziger Jahren wider. „Nur über mich selbst, sonst nichts. Ich, ich, ich.“ Das Handlungsziel der Innenorientierung rückt die beständige Auseinandersetzung mit Selbstzuständen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Das Subjekt wird in einem grenzenlos erweiterten Möglichkeitsraum zum beständigen Beobachter seiner selbst.

Knausgård macht im Prinzip nichts anderes als ein Facebook-User mit seiner Timeline: Er veröffentlicht eine kuratierte Version seiner eigenen Biografie. Er macht sein Leben als eine Art literarisches Breitbild-Selfie transparent, teilt es mit anderen und nennt es Roman, um sich auf die Gestaltungslizenzen künstlerischer Freiheit berufen und sie zugleich untergraben zu können. Knausgård ist im Klima der Gutenberg-Galaxis aufgewachsen und sozialisiert, kauft echte Bücher, bedient sich für sein eigenes Werk einer klassischen Publikationsform. Nichts in diesen Bänden lässt auf eine ausgeprägtere Affinität gegenüber den neuen Medien schließen. Gleichwohl ist eben dieses Werk offen für Lesarten, die den Mediennutzungsgewohnheiten der Digital Natives entsprechen.

Das wahre Leben ist kunstfähig

Die Illusion des Echten. In der holländischen Reality-TV Show "Utopia" müssen die Teilnehmer zusammen versuchen, eine neue Gesellschaft zu gründen. Das Format wurde in den Niederlanden entwickelt. Ab 2015 lief es auch im deutschen Privatfernsehen unter dem Namen "Newtopia".
Die Illusion des Echten. In der holländischen Reality-TV Show "Utopia" müssen die Teilnehmer zusammen versuchen, eine neue Gesellschaft zu gründen. Das Format wurde in den Niederlanden entwickelt. Ab 2015 lief es auch im deutschen Privatfernsehen unter dem Namen "Newtopia".

© dpa/Robin Van Lonkhuijsen

Neben dem Sharing-Motiv, der freimütigen Mitteilung selbst des Privatesten, eröffnet dieses auskragende Projekt eine Fülle von Anknüpfungspunkten. Knausgård hat sich dem Prinzip schonungsloser Offenheit verschrieben, das auch vor der Nennung von Klarnamen seiner Familienangehörigen oder seines Freundes- und Bekanntenkreises nicht haltmacht. Die Personen, von denen er erzählt, können in Teilen ebenso gegoogelt werden wie der Autor selbst: All diese Personen gibt es wirklich, was immer Knausgård mit ihnen macht. Der Roman wird so zum Ausgangspunkt für synchrone Recherchen, die sich mit dem erzählten Stoff verbinden und dem Reality-Status des Projekts zuarbeiten.

Seit der Romantik träumen die Künste davon, im Leben aufzugehen

Seit der Romantik und vollends seit den frühen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts träumen die Künste davon, im Leben aufzugehen. Die Gegenwartskunst knüpft an diesen Gedanken an, indem sie das Leben genau so abzubilden versucht, wie es ist, ja selbst Teil dieses Lebens sein will – und damit die Grenzen zwischen der ästhetischen und der sozialen Sphäre so konsequent wie möglich annulliert. Eben deshalb sprechen Reality-Formate in sämtlichen Gattungen zwischen Performance-Kunst und True Crime derzeit breite Publikumsschichten an. Das wahre Leben ist kunstfähig, und „Kunst ist alles, was die Definition erweitert“ (Hans Ulrich Obrist). Der entgrenzte Kunstraum stiftet „Kontexte“ für alle nur denkbaren Konstellationen jenseits tradierter Institutionen oder Deutungsansprüche – gerne auch in Form transdisziplinärer „Marathons“.

Knausgårds Roman klinkt sich, bewusst oder unbewusst, in diese Versuchsanordnungen ein, indem er uns scheinbar unmittelbar Anteil an seinem Leben und dessen Entwicklung nehmen lässt. „Min Kamp“ funktioniert wie „Big Brother“: Der Umstand der Zurschaustellung von Privatsphäre, die wir für echt halten dürfen, reicht aus, um mediale Aufmerksamkeit zu generieren.

Diese Erzählung ist nicht das Leben, sie sieht allenfalls so aus

Nichts scheint in der heutigen Medienwelt interessanter zu sein als das Privatleben anderer Leute. Wir nehmen Anteil am Alltag von Menschen, die sich mit sich selbst beschäftigen oder in soziale Beziehungen eintreten; die essen, schlafen, sich unterhalten, sich langweilen, die Kaffee kochen und Zigaretten rauchen, die versuchen, irgendetwas in ihrem Leben zustande zu bringen oder zu verändern und die – vor allem – dazu bereit sind, das alles öffentlich zu machen.

Dass Knausgårds Verfahrensweise einem eigentümlichen Gefühl der Vertrautheit mit dem Autor zuarbeitet, hat neben dem Sogeffekt einer partizipativen Lektüre wohl vor allem damit zu tun, dass der Leser tatsächlich jede Menge Zeit mit den bisweilen höchst intimen Angelegenheiten eines Autors verbracht hat, den man dann irgendwann zu kennen glaubt – wie jemanden, den man allabendlich im Fernsehen sieht.

Knausgård selbst pflegt dieses Gefühl der Nähe in Interviews oder auf Podien zurückzuweisen: Man kenne ihn keineswegs, bloß weil man seinen Roman gelesen habe. Diese Haltung dürfte mit dem mühsam errungenen Statusbewusstsein als anerkannter Schriftsteller zusammenhängen, von dem der Roman über weite Strecken handelt. Das Werk mag auf einem massiven autobiografischen Fundament ruhen – es ist dennoch kein Tagebuch und keine Beichte, nicht einmal eine Autobiografie, sondern Resultat eines Stilisierungswillens, der das erlebte Leben unter vorgeblich größten Mühen in die Form einer Erzählung zwingt.

Diese Erzählung ist nicht das Leben, sie sieht allenfalls so aus, weil sie im Leben den Stoff für die Kunst sucht und findet. Sie bietet Teilhabe an, macht sich durchlässig fürs Reale und beharrt zugleich ganz konventionell auf der Nicht-Unmittelbarkeit alles Gesellschaftlichen und Sozialen im eigengesetzlichen Raum der Kunst. Der vielfach diagnostizierte „Reality Hunger“, den David Shields in seinem gleichnamigen Buch beschwor, geht nicht zuletzt vom Überdruss an medialen Aufbereitungen des Realen aus.

Steffen Damm

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