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Fatih Akin verarbeitet in seinem neuen Film der Völkernord an den Armeniern von 1915/16.

© dpa / Filmfestspiele

Fatih Akins "The Cut" bei den Filmfestspielen Venedig: Das armenische Drama

Mit seinem Festivalbeitrag "The Cut" wagt sich der deutsche Regisseur Fatih Akin bei den 71. Filmfestspielen in Venedig an ein türkisches Tabu: den Völkermord an den Armeniern.

Sie werden dich mit Steinen bewerfen, hatte der türkische Freund zu ihm gesagt. Nein, sie werden Blumen werfen, meinte ein anderer. Es wird wohl von beidem etwas sein, wenn „The Cut“ in der Türkei ins Kino kommt. Fatih Akin hat einen Film über den Völkermord an den Armeniern gedreht, jenes Menschheitsverbrechen von 1915/1916, das in der Türkei lange ein Tabu war (und von dem die Deutschen wussten, ohne ihren osmanischen Waffenbrüdern in die Arme zu fallen). Noch 2007 war der Journalist Hrant Dink erschossen worden, weil er die türkischen Massaker an der christlichen Minderheit einen Genozid nannte. Inzwischen ist in der Türkei auch offiziell von Völkermord die Rede, es gibt erste Bücher, Debatten – und nationalistische Drohungen gegen den Film des türkischstämmigen Hamburgers Fatih Akin.

Ein Western aus der Perspektive der Opfer. Ein Migrantenepos, ein Roadmovie, ein Geschichtspanorama, wie es bislang nur der armenisch-kanadische Filmemacher Atom Egoyan in „Ararat“ versucht hat. „The Cut“ feierte am Sonntag seine Weltpremiere auf dem Filmfest Venedig, der Film beschließt Akins Trilogie über Liebe, Tod und Teufel, nach „Gegen die Wand“ (Goldener Bär, Berlinale 2003) und „Auf der anderen Seite“ (Bestes Drehbuch, Cannes 2007). 138 Minuten in Cinemascope, Wüstenbilder, biblisch-archaische Landschaften – und Schauplätze rund um die Welt.

"The Cut" wird zum Tableau des Grauens

Der armenische Schmied Nazaret (Tahar Rahim) lebt mit Frau und Töchtern in Mardin nahe der syrischen Grenze. Als die Osmanen in den Weltkrieg ziehen, erklären sie die Armenier zu Feinden. Nazaret muss als Zwangsarbeiter Wüstenpisten anlegen, überlebt ein Massaker mit einem Stich in der Kehle, bleibt fortan stumm. Seine Frau ist tot, Nazaret sucht seine zwei Töchter. In den Elendslagern der Deportierten, in libanesischen Waisenhäusern, in den Flüchtlingsrefugien und Bordellen von Aleppo, dann westwärts, immer weiter weg, in Havanna, Florida, Minneapolis, North Dakota. Ein Kraftakt von einem Film, gedreht wurde in Jordanien, Kuba, Kanada, Malta und Deutschland. Und weil der Regisseur Fatih Akin heißt, ist man am Ende natürlich zu Tränen gerührt.

Typisch Akin, diese Mischung aus politischer Aufrichtigkeit, moralischer Redlichkeit und inszenatorischer Naivität. Namhafte Kollegen wie Martin Scorsese und dessen legendärer armenischstämmiger Drehbuchautor Mardik Martin haben den 41-jährigen Filmemacher beraten; die Unbekümmertheit konnten sie ihm offenbar nicht nehmen. Nackte Leichen liegen am Grund eines Brunnens, das Lager in der Wüste voller wimmernder, ausgemergelter, sterbender Armenier wird zum Tableau des Grauens: „The Cut“ möchte dem Mörderisch-Teuflischen im Menschen mit Naturalismus beikommen, als gäbe es keine Grenzen der Fiktionalisierung, der Vorstellungskraft. Klar, Fatih Akin will dem Publikum den Anblick des Massenmords nicht ersparen. Aber er arrangiert ihn zwangsläufig, bettet den Terror ins Melodram ein, macht ihn erträglich, sandfarben, fast pittoresk.

Fatih Akin glaubt an das Erzählkino

Akin ist derzeit vielleicht der größte Melodramatiker des deutschen Kinos, und eben das ist das Problem. Allein die vielen Gutmenschen, die Nazarets Odyssee säumen. Immer wenn es zu arg wird mit den Bösen dieser Welt, tauchen Retter auf: ein freundlicher Deserteur, ein couragierter türkischer Seifenfabrikant, ein hilfreiches Auswanderer-Ehepaar in Kuba, armenische Eisenbahnarbeiter mitten im kalten amerikanischen Winter.

Fatih Akin glaubt an das Erzählkino, an Katharsis durch Rührung. „The Cut“ ist ein Bekenntnis in eigener Sache, eine überdeutliche Hommage an die Kraft der Bilder, spätestens in jener Aleppo-Szene, in der ein Wanderkino 1921 Chaplins „The Kid“ zeigt – was Nazarets Entschluss reifen lässt, die Suche nach den Töchtern fortzusetzen.

In Venedig häufen sich die Selbstreflexionen.

Überhaupt häufen sich die Selbstreflexionen dieses Jahr in Venedig. Das Festival war ja bereits mit der Superhelden-Tragikomödie „Birdman“ eröffnet worden; am Wochenende hielt nun der Selbstdarsteller Al Pacino Hof, mit großer Show auf dem roten Teppich und gleich zwei Filmen im Hauptprogramm, David Gordon Greens „Manglehorn“ im Wettbewerb und Barry Levinsons „The Humbling“ (Die Demütigung) außer Konkurrenz.

Das Kino, hat Fellini einmal gesagt, ist die direkteste Art, mit Gott in Konkurrenz zu treten. Fellini meinte wohl die Regie, aber für die Stars gilt der Satz auch. Der Mann, der als Michael Corleone in Coppolas „Pate“-Trilogie weltberühmt wurde, der Brian de Palmas „Scarface“ war, der Shakespeares Bösewichte und den Teufel persönlich gespielt hat, er verkörpert in Levinsons Philip-Roth-Adaption einen Gott, der abdanken muss. Der 74-jährige Al Pacino als gealterter Star in der Krise, der auf offener Bühne versagt – es ist die ultimative Demütigung. Bis eine blutjunge Frau aufkreuzt (Greta Gerwig), die den schwer Depressiven ins Leben zurückschubst.

Al Pacino gibt den Rockstar

Eine Ein-Mann-Show, dieser Simon Axler. Lebensmüde, aber eitel bis zum Anschlag kämpft er mit dem eigenen Mythos. In Venedig wird ein Vexierbild daraus. Bei der Pressekonferenz am Lido gibt Al Pacino den Rockstar mit verspiegelter Brille und großen Ringen an den Fingern, deklamiert, posiert, chargiert, hält Endlos-Monologe. Er macht sich einen Spaß aus der eigenen Selbstgefälligkeit, spielt demonstrativ mit seinen Allüren, ohne sich je in Selbstironie zu flüchten. Wenn die Fans am roten Teppich Selfies mit ihm knipsen, richtet er sich jedes Mal den Haarschopf.

Auch in „Manglehorn“ ist er ein Mann mit Kontaktstörungen zur Realität, ein einfacher Schlosser, der seit Jahren der Liebe seines Lebens nachtrauert, sich eingeigelt hat und alle vor den Kopf stößt, die ihm zugetan sind. Bis sein Seelenpanzer Risse bekommt. Meisterwerke sind beide Filme nicht. Aber man begreift in ihnen etwas über das Wesen des Stars, über die Verzweiflung und Gefährdung, die in der Unnahbarkeit steckt. Auch von Robin Williams ist auf der Konferenz mit Pacino die Rede. Wie kann man sich anhimmeln lassen, wenn man selbst nicht mehr an sich glaubt?

Nazaret in „The Cut“ geht nicht mehr in die Kirche, der Genozid ließ ihn seinen Glauben verlieren. „Wenn ich eine Welt wie Gott geschaffen hätte, wäre ich auch weggezogen.“ Noch ein Satz von Fellini.

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