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Maya Boog

© Tanja Dorendorf

''Faust''-Oper: Luftballons im Bauch

Philipp Stölzl nimmt in Basel Charles Gounods "Faust"-Oper unter die Lupe. Der Regisseur schneidet den Opernstoff wie seine Filmbilder. Dabei bekommt das Publikum auch die tristen Seiten des Stücks zu sehen.

Margarethe kann nicht mehr. Hochschwanger irrt sie in ihren nicht unbedingt wintergerechten Hotpants durch den Schnee, überm gewölbten Bauch ein rosa Top, auf dem wie zum Hohn das Wort „Love“ zu lesen ist. Bald wird sie neben der Leiche ihres Bruders niederkommen und kaum bewusst das Neugeborene einfach im Schnee liegen lassen – keine Kindsmörderin, sondern einfach eine überforderte Prekariatsmutter.

Man kann Philipp Stölzl nicht vorwerfen, dem Publikum die tristen Seiten von Gounods „Faust“-Oper vorzuenthalten. Schon gleich zu Anfang führt er drastisch vor, was es heißt, alt und gebrechlich zu sein: Sein Faust ist ein Steven Hawking, der es kaum noch schafft, seinen hochgerüsteten Rollstuhl zu manövrieren – geschweige denn, sich mit Tabletten ins ersehnte Jenseits zu befördern. Klar, dass sich dieses Häuflein Elend nichts so sehr wünscht wie Jugend und Gesundheit. Und damit der sieche Herr Doktor die Seele für einen anderen Leib hingibt, braucht es auch gar nicht die Überredungskünste eines Mephisto, sondern nur die Stimme des eigenen Alter Ego.

Nachdem er im vergangenen Jahr in Salzburg mit Berlioz' „Benvenuto Cellini“ ganz auf Opulenz und Trickkiste gesetzt hatte, konzentriert sich Stölzl bei seinem „Faust“ ganz auf den Kern des Stoffs, die nackte Wahrheit zwischen Faust und Margarethe. Und nach dem eher kritisch aufgenommenen Debüt macht diese Inszenierung am Theater Basel deutlich, weshalb der Sohn des ehemaligen Berliner Kultursenators derzeit als einer der spektakulärsten Newcomer der Opernszene gehandelt wird. Ohne sich durch die abfälligen Urteile, die immer noch an Gounods melodienseliger Vertonung des GoetheStoffs haften, im Mindesten beirren zu lassen, bedient er sich beim üppigen musikalischen Ausgangsmaterial, nimmt ohne Rücksicht auf Opernkonventionen nur das, was ihm zupass kommt. Selbst ein Hit wie die Ballade vom „König in Thule“, den man der auf Rollerblades herumstolpernden Luftballonverkäuferin Margarethe nur schwer abgenommen hätte, wird umstandslos geopfert. Dafür taucht kaum je Gehörtes wie Siebels Einlagearie „Si le bonheur“ und sogar ein Teil der Ballettmusik auf. Und mit der gleichen konstruktiven Respektlosigkeit, mit der der Filmemacher Stölzl vermutlich sein Bildmaterial schneidet, zerlegt er auch die Walpurgisnachtmusik in zwei Teile: Zuerst fallen Faust, Mephisto und ihr Hexenrudel über Margarethes ProllBruder Valentin (Marian Pop) her, später dann wird die räkelnde Chill-OutMusik des Blocksberg-Trinklieds eine Vision Margarethes illustrieren: In flammendrotes Licht getaucht erscheint ihr eine Hochzeitstorte mit dem Bräutigam Faust als Sahnehäubchen obendrauf.

Diese Eingriffe wirken freilich nie willkürlich, sondern bringen Timing und Stringenz in das ansonsten eher breit gelagerte Stück. Stölzl ist zwar up to date in der Wahl seiner Mittel, aber frei von jenem Skeptizismus, der etwa die Arbeiten seines Freundes Sebastian Baumgarten prägt: einer, der an die Stücke glaubt, die er macht und versucht, ihre musikalische Dramaturgie möglichst exakt ins Bild zu setzen. Das auf den ersten Blick karge Bühnenbild mit seinem zylindrischen Zentralbau und der umlaufenden Drehscheibe reflektiert die Usancen der Oper des 19. Jahrhunderts, die ihrem Publikum prächtige Bilder am laufenden Band vorsetzte wie Gänge in einer Menüfolge.

Dass hier eine maßstäbliche Version der Gounod-Oper gelingt, liegt auch daran, dass Stölzl am Basler Theater auf ein großartiges Ensemble rechnen kann. Der Nicolai-Gedda-Schüler Rolf Romei ist ein Faust, dem man den von Spasmen gekrümmten Greis ebenso abnimmt wie den lebensdurstigen Playboy – und der in seiner Hilflosigkeit gegenüber dem von ihm angerichteten Unheil doch ein Mensch bleibt, dem man die Schönheitsversprechen seiner biegsamen Tenorstimme abnimmt. Der Slowake Stefan Kocán liefert dazu den volltönend verneinenden Geist, in dessen Zynismus-geätztem Bass sich jene unangenehmen Seiten spiegeln, die der tenorale Schöngeist ausblendet. Die beiden passen in ihren grauen Glitzeranzügen zueinander wie Jekyll und Hyde.

Schnell schlagendes Herz der von Enrico Delamboye als Dirigent brav geleiteten Aufführung ist allerdings die Margarethe von Maya Boog. In der Zerbrechlichkeit ihres Soprans und ihrer zierlichen Gestalt, im verzweifelten Glauben an das Gute, der aus ihren großen Augen und ihren schüchternen Bewegungen spricht, ist Boog das Gegenteil der großen Operndiva. Ihre Juwelenarie hat nichts von virtuosem Triumph oder gar Koketterie, sondern die Atemlosigkeit eines Mädchens, das vom plötzlichen Wahrwerden eines Traums überwältigt wird. Um das Publikum zu rühren, muss diese Sängerin nicht einmal singen: Es reicht schon, wenn sie auf ihrer Kinderschaukel sachte hin- und herschwingt und einfach nur vom Glück träumt.

Lange Zeit hieß Gounods Oper in Deutschland übrigens nicht „Faust“, sondern „Margarethe“. Das wäre auch in Basel nicht verkehrt gewesen.

Jörg Königsdorf

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