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Kultur: Ferne Düfte

Ein Luftgeist und seine mythischen Heerscharen: Claudio Abbado bei den Berliner Philharmonikern

Alle singen und spielen im Frack: Nur Claudio kommt im Anzug. Für die meisten Interpreten des Abends – die Philharmoniker, die durch die Herren des Bayerischen Rundfunks verstärkten Herren des Rundfunkchors Berlin und den Tenor Jonas Kaufmann – dürfte es die erste (und letzte?) Begegnung mit Johannes Brahms’ juveniler Chorkantate „Rinaldo“ gewesen sein: Nur Claudio soll sie vor 30 Jahren schon einmal wiederbelebt haben. Und also klammern sich alle an ihre Noten: Nur Claudio dirigiert auswendig, mit lang und länger werdenden Armen, ein Enthusiast, ein Luftgeist, als gäbe es nichts Schöneres, als solche mythischen Heerscharen zu befehligen. Der Jubel ist ihm sicher, und das liegt nicht nur am Finalgetöse, wenn der liebestolle Kreuzritter Rinaldo dem Bann der Zauberin Armida entronnen ist und nach allerlei textlichen wie musikalischen Umstandskrämereien den Weg zurück ins gelobte Land findet. („Wunderbar sind wir gekommen,/ Wunderbar zurückgeschwommen“, dichtet Goethe hier.)

Claudio Abbados philharmonische Programme haben zuletzt kaum etwas an Seltsamkeit vermissen lassen. Es scheint, als wolle der Italiener Berlins späte Liebe und Treue zu seiner Person immer wieder neu auf die Probe stellen. Und Stadt, Orchester, einheimisches wie auswärtiges Publikum halten tapfer mit, das wäre ja gelacht. Diesmal richtet sich Abbados Focus auf Vokalwerke von Schubert, Schönberg und Brahms, auf das Dichterwort in seiner exzessiven klanglichen Ausstülpung und symphonischen Gestalt. Als ästhetische Quersumme ist das interessant: Plötzlich sind die von Max Reger und Hector Berlioz orchestrierten Schubert-Lieder vom frühen Schönberg bloß noch ein paar Harmonien entfernt; und bei Brahms wurzelt, so begreift man, was das Lied in die Expansion trieb: das bürgerliche Musikleben selbst, der Tatendurst der allüberall aus dem Boden schießenden Singakademien und Cäcilienvereine. „Rinaldo“ übrigens geht auf ein Preisausschreiben der Aachener Liedertafel von 1863 zurück ...

Fabelhaft, wie konzentriert Abbado führt. Entströmen dem Orchester bei Schubert/Reger („Gretchen am Spinnrade“, „Nacht und Träume“) ferne Düfte, so springen bei Schubert/Berlioz („Erlkönig“) die Muskeln und Bogenhaare. Abbados Schönberg-Ton ist facettenreich und sehr naturverbunden, nie esoterisch, nie nur opulent. Schade, dass die junge holländische Mezzosopranistin Christianne Stotijn sich der Sache so wenig gewachsen zeigt: Die Miene angestrengt, die Kehle oft wie zugeschnürt, das Timbre mal gurgelnd, mal blechern – eine Frage der Nerven?

Auch Jonas Kaufmann mag sich in seiner Rinaldo-Haut nicht richtig wohlfühlen. Vielleicht ist diese zwischen Reflexion und opernhafter Outrage schwankende Partie gar nicht zu durchdringen. Trotzdem setzt Kaufmann ihr ein paar Glanzlichter auf und erfüllt, wo der biedermeierliche Bilderbogen es gestattet, die Musik mit Seele, mit Sentiment („Zum zweiten Male“). Und das Bataillon der fulminanten Männerchöre versichert ihn und uns, spätestens bis zu Abbados nächstem Gastspiel: Es geht doch nichts über eine eingeschworene Gemeinschaft.

Christine Lemke-Matwey

Noch einmal heute, 20 Uhr (ausverkauft). Live-Übertragung unter www.berliner-philharmoniker.de

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