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Festival: Die Passion der Schiiten

Das Pariser Festival d’Automne zeigt russische U-Boote - und Irans Oberammergau.

Gewaltige Nebel verhüllen eine kleine Insel. Solange, bis sie ganz von der Wasseroberfläche verschwunden ist. Ein klassischer Fall von schlechtem Wetter – oder von Zauberei. Das Plakat des 36. Pariser Festival d’Automne dokumentiert eine Kunstaktion des Russen Alexandre Ponomarev, einem Mann zwischen zwei Passionen: dem Meer und der Kunst. Zusammen mit Matrosen der Nordseeflotte und ausgerüstet mit vier Schiffen hat er sich in die Barentssee aufgemacht und die Insel Maya mit Nebelkerzen verhüllt, nachdem er sie vorab von Seekarten getilgt hatte.

Doch die schönsten Installationen des Russen lassen sich nicht in die Städte und die Museen holen, sondern müssen auf immer Geheimnisse des Meeres bleiben: angemalte U-Bootwracks in der Ostsee zum Beispiel, stählerne Leichen, denen durch die Kunst ein zweites Leben zuteil wird.

In der Saint-Louis-Kapelle inmitten des Großkrankenhauses Salpêtrière hat Ponomarev das nasse Element in zwei große Plexiglaskugeln gesperrt, aus denen milde dröhnende Geräusche kommen. Und er hat seine Erfahrungen als Meeresingenieur und U-Boot-Matrose in ein gewaltiges Periskop gefasst, das sich aus der Kuppel des Zentralbaus bis in die Reichweite der Besucher senkt. Mit diesem Gerät kann man Videobilder des herbstlichen Paris sehen, die eine Kamera hoch oben auf dem Dach der Kuppel erfasst. Und man kann mit den Bildern spielen, kann schwenken und zoomen mit dem Periskop in der Kirche.

Die Installation „Verticale Parallèle“ schiebt zwei Wahrnehmungsebenen ineinander – Kirchenschiff und Schiffskörper. Die spirituelle und die geologische Vertikalität greift aus dem „De Profundis“ des Meeres und der Seelen nach einem Bild höherer Ordnung. Außerdem lässt sie dabei dem Auge des Siechen im Krankensaal die über die Kamera gewonnene Horizontsicht des Gesunden zuteil werden. Die Bilder der Kamera auf dem Dach der Kirchenkuppel werden im Kanal 9 der Fernsehversorgung des Krankenhauses übertragen. Ponomarevs Arbeit sagt: Überall ist U-Boot-Land. Deshalb lasst uns schauen mit den Augen der anderen.

Bei dem Iraner Abbas Kiarostami heißt das: Lasst uns schauen in die Augen der anderen. Seine früheren Filme grundierte der Regisseur mit streng poetischen Landschaftspanoramen, etwa in „Wo ist das Haus meines Freundes?“ oder in „Quer durch den Olivenhain“. In seiner kinematografischen Installation „Looking at Tazieh“ lenkt er das Augenmerk auf Gesichtspanoramen, auf das Antlitz der Menschen. Die Kamera erfasst, oft in Großaufnahme, Haut, Augen und Hände, in die sich Lebensgeschichten eingeschrieben haben, vor allem aber die Reaktion auf ein jährlich wiederkehrendes Martyrium.

In „Looking at Tazieh“ im Centre Pompidou sieht der Zuschauer Menschen, die ihrerseits zuschauen. Die Frauen auf dem der linken und die Männer auf der rechten Leinwand haben sich zum Tazieh versammelt, dem schiitischen Passionsspiel. Es erzählt ausführlich die Geschichte von der ungleichen Schlacht von Kerbala, in der das Trüppchen um den Imam Hussein von der Heerschar des Umayyaden-Herrschers Yazid niedergemacht wird – das Ereignis, mit dem das Schisma der islamischen Welt besiegelt war.

Schiiten beziehen aus dem im Oktober des Jahres 680 endgültig verlorenen Nachfolgestreit gegenüber den Sunniten das grundlegende Gefühl, das ein Martyrium ihren Glauben prägt, der aussichtslose Widerstand gegen einen illegitimen Unterdrücker. Tazieh-Aufführungen werden im Iran mit großem Aufwand und einfachen theatralischen Mitteln gefeiert. Religiöses Laientheater wie bei der Semana santa in Andalusien oder in Oberammergau, und doch anders.

Abbas Kiarostami dokumentiert die rot gekleideten Kräfte des Bösen, gemeint sind die Schergen des Umayyaden-Herrschers, die grün oder weiß gekleideten Vertreter des Guten – Hussein und seine Familie – und ihr plakatives Spiel lediglich auf einem kleinen Bildschirm in der Mitte seiner Installation. Die ganze Aufmerksamkeit soll den schwarz-weißen Bildern von Frauen gelten, die ihre Köpfe in Händen verbergen, einen Zipfel ihres Schleiers in den Mundwinkel nehmen, dann mit der rechten Hand sanft auf ihr Herz klopfen und schließlich, ebenso wenig wie die Männer, ihre Tränen unterdrücken können, wenn ihr Imam schon in Agonie am Boden liegt und sich gleichwohl immer noch mit seinem Gesang, in einem noblen, quasi liturgischen Ausdruck gegen die formlose Barbarei seiner Gegner wehrt.

Kiarostamis Bilder vom Mit-Leid des Tazieh Publikums, bei dem jede Grenze zwischen der alten Geschichte und dem heutigen Erleben in der Trauer aufgelöst ist, lässt an das griechische Ideal der Katharsis denken, an die Reinigung der Seele durch Trauer und Schrecken. Es bleibt Kiarostamis Geheimnis, wie es ihm gelang, so weit in die Intimsphäre seines Tazieh-Publikums einzudringen, ohne dem westlichen Zuschauer seiner „Looking-at-Tazieh“-Installation das peinliche Gefühl aufzudrängen, zum Voyeur einer privaten Situation zu werden.

Vielleicht, weil hier das naive, emotionale Grundgefühl eines religiösen Erlebens porträtiert wird, das auch andere Religionen als Passion kennen, vielleicht aber auch, weil es eben nicht ein privates Gefühl ist, sondern eine elementare und geteilte Erfahrung, die einer Gemeinschaft, einer Umma. Dann wäre Kiarostami an der Grenze dessen angekommen, was die Gesellschaften im Orient und im Okzident tatsächlich trennt: eine ganz andere Erfahrung von Privat und Öffentlich in der Welt der Gefühle.

Mit Künstlern wie den Libanesen Walid Raad und Rabih Mroué, dem Palästinenser Mahmud Darwisch, dem Syrer Omar Amiralay und Komponisten aus der arabischen Welt wird das „Festival d’Automne“ bis Dezember Phänomen zwischen Ost und West nachgehen.

Infos: www.festival-automne.com

Eberhard Spreng

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